(english translation below)
„Für Gruppen wie für Individuen bedeutet leben unaufhörlich sich zu trennen und wieder vereinigen, Zustand und Form verändern, sterben und wiedergeboren werden. Es bedeutet handeln und innehalten, warten und sich ausruhen, um dann erneut, aber anders zu handeln. Und immer sind neue Schwellen zu überschreiten“ (van Gennep 2005, S. 182).
Der Aktionsraum –
Ein Übergangsritual
Rituale sind verkörperte Handlungen, körperliche Inszenierungen und Gestalter von sozialer Wirklichkeit. Ihnen wohnt ein performativer Moment inne, der die derzeit geordnete und bestimmende Realität, „zugunsten einer relativierenden, beweglichen, den Kontexten angepassten Interpretation, die eine Pluralität von ideomatischen Gesten und kontextuierenden Heuristiken zeitigt“ (Zirfas/Wulf 2001, S. 203), verlässt.



Die Theorie des Übergangsrituals der Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner schafft mit den Phasen des Trennungs-, Umwandlungs- und (Wieder-)Angliederungsrituals einen Rahmen, in dem das Individuum durch Unordnung eine neue Ordnung herstellen kann und ermöglicht das Durchspielen unterschiedlicher Seins-Zustände. In diesem Zustand der Unordnung, in dem das Individuum nichts ist und noch nichts geworden ist, kann es alles sein und alles werden. „Jeder, der sich von einer Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten“ (van Gennep 1986, S. 27f).
Victor Turner spricht im Zusammenhang der Umwandlungsphase vom „Sozialen Drama“. „Das soziale Drama beginnt mit einem Bruch der sozialen Normen, die zu einer krisenhaften Situation führen, für deren Lösung „Versuche der Bewältigung und Reflexivität“ notwendig werden“ (Heryln 2002, S. 25). Das Individuum ist von seinen alten Strukturen gelöst und noch nicht in neue Strukturen eingebettet. Turner bezeichnet diesen Zustand auch als Anti-Struktur. Van Gennep schreibt in seinem 1909 erstmals erschienenen Werk „Übergangsriten“: „Solche Zustandsveränderungen gehen nicht vor sich, ohne das soziale und individuelle Leben zu stören“ (van Gennep 1986, S.23).
Der Aktionsraum ermöglicht in seiner Ritualstruktur Phasen der Loslösung, des Schwellenzustands und der Wiederkehr. In der künstlerischen, pädagogischen Aktion öffnen sich kleine Momente von Selbstdarstellung, Verfremdung und Fremdwahrnehmung, die neue Möglichkeitsperspektiven aufzeigen aber auch Verunsicherungen hervorrufen. Der Fahrende Raum eröffnet einen Schutzraum und die Eventualität sich ohne Konsequenz immer wieder ziellos auf das Neue einzulassen, das kein Festhalten und keine Struktur vorgibt.


Auch die Pädagogen Christoph Wulf und Jörg Zirfas heben hervor, dass im „Vollziehen performativer Akte immer auch die Möglichkeit (besteht) im Vollzug selbst die Normen und Regeln außer Kraft zu setzten, sie zu ironisieren, umzucodieren, die Fraglosigkeit in Frage zustellen“ (Zirfas/ Wulf 2007, S. 17). Wenn das Übergangsrituals durchlaufen ist und das Individuum sowohl Grenzen überschritten sowie sich eine neue Ordnung geschaffen und neue Strukturen erfahren hat, steht es als ein verändertes Selbst in der Gesellschaft (vgl. van Gennep 1986, S. 13ff).
Bewegung
im Aktionsraum
Die körperliche Bewegung ist Entwicklung und dynamisches Erleben, sie ist und entsteht durch Veränderung und Übergang. Es ist das be-weg-liche der Bewegung, das sie fluide und prozesshaft gestaltet (vgl. Weinberg 2004, S. 193). „Eine Bewegung ist eingebettet in natürliche, historische und soziale Impulsgeber“ (Zirfas/ Wulf 2001, S. 202f). Sie ist situativ und beteiligt an der Identitätsfindung des Individuums. Bewegung ist also „eine spezifische, durch den Leib vollzogene Art der Verarbeitung äußerer und innerer Realität“ (Augustin/ Gscheidel 1998, S. 7).
Bewegungen sind nach dem Psychologen William James (1890) aber auch automatisierte Gewohnheiten und „Gewohnheit verringert die bewusste Aufmerksamkeit, mit der unsere Handlungen ausgeführt werden“ (zit. n. Paluselli-Mortier 2016, S. 47). Wie kann Bewegung also als Prozess gedacht werden? „Es geht um eine Wissenspolitik, die die lebendige Bewegung im Moment des kulturellen Geschehens in einem Umfeld wahrnimmt“ (Westphal 2014, S. 152). Dabei wird sich von Strukturen gelöst, um Bewegung als ein Übergang, „als ein Kommen und Gehen, ein Steigen und Fallen verstanden werden [zu] können“ (ebd.). „Wollen wir das Phänomen der Bewegung ernst nehmen, so müssen wir eine Welt denken, die nicht allein aus Dingen, sondern aus reinen Übergängen besteht. Das Etwas im Übergang, dessen Notwendigkeit für die Konstitution der Veränderung wir erkannt haben, definiert sich allein durch seine besondere Weise des ,Vorübergehens‘“ (Merleau-Ponty 1966, n. Seitz 2013, S. 148).

Das Übergangsritual kann eine eine De-, Re- und Neukonstruktion von Bewegung ermöglichen. Durch körperliche Bewegung werden die Zwischenräume innerhalb der Akteure ausgetestet und choreografiert. In Bewegung kommen Nähe und Distanz sowie Annäherung und Entfernung zum Ausdruck. Es ist das Wissen um die Körperlichkeit des Anderen – das Körper sein und Körper haben – das Bewegungen oder Handlungen nachvollziehbar sein lässt.
Auch das Ritual bewegt sich in seiner Beschaffenheit und Ordnung, indem es sich verändert, Raum schafft oder nimmt (vgl. Wulf 2015, S. 28). Es öffnet Räume, um Körperrollen in Bewegung neu zu definieren, neu zu gestalten und mit diesen zu spielen, sie mitzunehmen und anzuwenden, innerhalb der Umwandlungsphase aber auch in der (Wieder-)Angliederungsphase, um sich damit in einer neuen Ordnung, in aufbrechenden Strukturen zurecht zu finden. In diesen Handlungen wird eine Nähe zur Welt hergestellt, eine Vergemeinschaftung. „Der Fokus liegt dabei nicht mehr auf dem Phänomen, dass Wissensbestände und Handlungen auf Individuen verteilt sind, sondern dass Individuen ihr Wissen und ihre Handlungen und Praktiken temporär vereinen und ein einziges Wir-Subjekt bilden können“ (Meyer/ von Wedelstaedt 2015, S. 100).
Literatur
Augustin, Nicole/ Gscheidel, Karoline (1998): Bewegung in Widersprüchen – Widersprüche in Bewegung bringen. Vörschläge für eine bewegungspädagogische Arbeit mit Mädchen. Pfaffenweiler: Centaurus
Heryln, Gerrit (2002): Ritual und Übergangsritual in komplexen Gsellschaften. Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zu Begriff und Theorie. In: Hengartner, Thomas/ Lehmann, Albrecht/ Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Studien zur Alltagsforschung. Band 1. Hamburg: LIT
Meyer, Christain/von Wedelstaedt, Ulrich (2015): Teamsubjekte: Rituelle Körpertechniken und Formen der Vergemeinschaftung im Spitzensport. In: Gugutzer, Robert/ Staack, Michael (Hg.): Körper und Ritual. Wiesbaden: Springer VS
Paluselli-Mortier, Christa (2016): Auswirkungen der KBT auf neuronale Strukturen. In: Schmidt, Evelyn (Hg.): Konzentrative Bewegungstherapie. Grundlagen und störungsspezifische Anwendung. Stuttgart: Schattauer Verlag
Seitz, Hanna (2013): In Bewegung – Ereignisfeld für ästhetische Erfahrung. In: Bilstein, Johannes/ Peskoller, Helga (Hg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden. Springer VS
van Gennep, Arnold (1986): Übergangsriten. Frankfurt/Main: Campus
van Gennep, Arnold (2005): Übergangsriten. Frankfurt/Main: Campus
Weinberg, Peter (2004): Kohärentes Bewegen. Grundlagen eines wissenschaftlichen Denkens durch das Bewegen. In: Klein, Gabriele (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: Transcript
Westphal, Kristen (2014): Bewegung In: Christoph Wulf/ Jörg Zirfas (Hg): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer VS
Wulf, Christoph (2015): Rituale als performative Handlungen und die mimetische Erzeugung des Sozialen. In: Gugutzer, Robert/ Staack, Michael (Hg.): Körper und Ritual. Wiesbaden: Springer VS
Zirfas, Jörg/ Wulf, Christoph (2001): Integration im Ritual. Performative Prozesse und kulturelle Differenzen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4. Jahrg., Heft 2/2001, S. 191-208.
Zirfas, Jörg/ Wulf, Christoph (2007): Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien. In: Pädagogik des Performativen. Theorien. Methoden, Perspektiven. Weinheim/Basel: Beltz
English Translation
The space of action—a rite of passage
Doris Koopmann
“For groups, as well as for individuals, to live means to incessantly separate and reunite, to change condition and form, to die and be reborn. It means to act and to pause, to wait and to rest, then to act again, but differently. And there are always new thresholds to be crossed” (van Gennep 2005, p. 182).
Rituals are embodied actions, physical enactments, and shapers of social reality. They possess a performative moment that leaves the as of yet orderly and defining reality, “in favor of a relativizing, flexible interpretation adapted to the context that results in a plurality of ideological gestures and contextual heuristics” (Zirfas/Wulf 2001, p. 203).
Ethnologists Arnold van Gennep and Victor Turner’s theory on rites of passage creates a framework with ritual phases of separation, transition, and (re)incorporation in which the individual can create a new order through disorder, and enables an acting out of different states of being. In this state of disorder, in which the individual is nothing and has not become anything yet, they can be and become anything. “Anyone who moves from one sphere to another is, spatially as well as magico-religiously, in a peculiar situation for a time: they float between two worlds” (van Gennep 1986, p. 27f).
Victor Turner speaks about “social drama” in the context of the transition phase. “Social drama begins with a break in social norms that leads to a critical situation, requiring ‘attempts at coping and reflexivity’ to resolve it” (Heryln 2002, p. 25). The individual is detached from their old structures and not yet embedded in new structures. Turner also refers to this condition as an anti-structure. In his work The Rites of Passage, first published in 1909, Van Gennep writes: “Such changes in condition do not occur without disrupting social and individual life” (van Gennep 1986, p.23).
In its ritual structure, the performance space enables phases of disengagement, liminality, and reemergence. In artistic, educational performance, small moments of self-representation, alienation, and outside perception unfurl to reveal new possible perspectives, but also cause uncertainties. Der Fahrende Raum establishes a protective space and the opportunity to—without consequence—repeatedly and aimlessly embrace what is new, without conventions or structure.
The educators Christoph Wulf and Jörg Zirfas also emphasize that in “the carrying out of performative acts there is always the option to suspend norms and rules, to treat them ironically, to re-code them, to question the unquestionable” (Zirfas/Wulf 2007, p. 17). When the rite of passage has been completed and the individual has transcended boundaries, established a new order for themselves, and experienced new structures, they are a changed self in society (see van Gennep 1986, pp. 13ff).
Movement
in the performance space
Physical movement is development and a dynamic experience, it exists as and emerges through change and transition. It is the flexible nature of movement that makes it fluid and process-driven (see Weinberg 2004, p. 193). “A movement is embedded in natural, historical, and social impulses” (Zirfas / Wulf 2001, p. 202f). It is situational and assists the individual’s search for identity. Movement is thus “a specific way of processing external and internal reality carried out by the body” (Augustin/Gscheidel 1998, p. 7).
Movements, according to the psychologist William James (1890), are also automated habits and “habit diminishes the conscious attention with which our actions are carried out” (quoted in Paluselli-Mortier 2016, p.47).
So how can movement be thought of as a process? “It is a matter of a form of knowledge that detects living movement during cultural events in an environment” (Westphal 2014, p. 152). In doing so, one is detached from structures in order to understand movement as a transition, “as coming and going, rising and falling” (ibid.).
“If we want to take the phenomenon of movement seriously, we need to think of a world that is not made up only of things but also of pure transitions. The something in transition, which we have recognized as necessary for the constitution of change, is defined solely by the particular mode of its ‘passing’” (Merleau-Ponty 1966, p. 320 cited in Seitz 2013, p. 148).
The rite of passage may allow for a deconstruction, a reconstruction, and a new construction of movement. Through physical movement, the gaps in between the protagonists are tested and choreographed. In movement, proximity and distance as well as convergence and detachment are expressed. It is the knowledge of the physicality of the other—being a body and having a body—that makes movements or actions comprehensible.
The ritual also ranges in its nature and order, by changing, creating space, or taking space (see Wulf 2015, p. 28). It opens up spaces to redefine, redesign, and play with the roles of the body in motion, taking them with it and adopting them, both during the transition phase and in the (re)incorporation phase, to find one’s way in a new order, in emerging structures. In this action, a closeness to the world is established, a communitization. “The focus is no longer on the phenomenon that knowledge and actions are distributed to individuals, but that individuals can temporarily unite their knowledge and their actions and practices and form a single We” (Meyer/von Wedelstaedt 2015, p. 100).