DER FAHRENDE RAUM |  -

Am Anfang dieses Textes steht eine etymologische Betrachtung, die mich schon seit Langem fasziniert: Das Wort Text leitet sich vom Lateinischen ab, „textus”, welches für Zusammenhang bzw. Gewebe steht. Nun verfasse ich einen Text über Stoffe, eine semantische Doppelbödigkeit, die im Verlauf dieses Essays wieder auftauchen wird.

Ein Gewebe hat verschiedene Hierarchien und Anordnungen, also Normen, in denen es verläuft. In seiner repetitiven Struktur werden Anfänge und Enden der einzelnen Fäden irrelevant, ebenso ändern sich deren Strukturen und Eigenschaften. Es ist mehr als die Summe seiner Fäden. Textilien, Stoffe & Gewebe sind für mich ein Verweis-System, um soziale und gesellschaftliche Prozesse wahrzunehmen sowie deren Wirkungen aufzuzeigen.

Walter Benjamin (R.I.P.) benutzte die Kairos-Webe-technik als Allegorie, um revolutionäre Momenten zu verbildlichen. Hierbei fungiert das Gewebe als „vorproduzierte Geschichte“, in die goldene Schmuckfäden als revolutionäre Momente „eingeschossen“ werden. Genau wie Benjamin nehme ich Gesellschaft als komplexe Gesamtform war, die Benachbarten stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander.

DER FAHRENDE RAUM | Aktionsraum „SchwarmStoff“, Der Fahrende Raum 2018 -
Aktionsraum „SchwarmStoff“, Der Fahrende Raum 2018

Soviel zur Makro-Ebene, um die Mikro-Ebene zu beschreiben, möchte ich den Begriff Embodiment einführen. Ihm kommt eine Scharnierfunktion zu, da er persönliche Erfahrungen mit den öffentlichen Praxen einer Person ins Verhältnis setzt. Das bedeutet: Als weißer Mann schreibe und kleide ich mich anders als eine schwarze Frau, weil ich selbst (und die Generationen vorher) andere Bedingungen und Grade von repressiven Verhalten erfahren habe. Diese Erfahrungen sind (kollektiv) verinnerlicht und sprechen auf verschiedene Weise aus uns selbst heraus.

Natürlich kann mit dieser Außenwahrnehmung gespielt werden, wie Thomas Macho in seinem Aufsatz „Das prominente Gesicht“ formuliert (Macho 1999). Kleidung, Accessoires etc. ersetzen hier zunehmend die persönlichen Eigenschaften eines Menschen und schaffen so eine Persona. Sie ist maßgeblich Image und Symbol, was wiederum definiert, wie sie sich öffentlich äußert. Die anfangs erwähnte Doppelbödigkeit wird hier zu einer komplex ineinander verzahnten Lebensform.

Wie diese Formen der Repräsentation vergesellschaftet (Hund 2018) werden, ist maßgeblich durch Fragen von Eigen- & Fremdbestimmung bzw. -bezeichnung bestimmt.

Für das Projekt im Fahrenden Raum, habe ich mit den Kids zusammen kollektive Kleidungsstücke entworfen und produziert. Unsere Gedanken kreisten dabei um Kleidung als 2te Hülle, Handlungsoptionen, Verstecke & das Schaffen eines großen kollektiven Körpers, Spielskulpturen, die kollektives Handeln schulen und ermöglichen. Dieser emanzipatorische und ermöglichende Anspruch kann sich jedoch ins Gegenteil verkehren, wenn eine Person fremdbestimmt zu einer Persona gemacht wird.

DER FAHRENDE RAUM | Aktionsraum „SchwarmStoff“, Der Fahrende Raum 2018 -
Aktionsraum „SchwarmStoff“, Der Fahrende Raum 2018

Die von Macho benannten Attribute lassen sich ebenfalls auf den Begriff Masse anwenden, welcher aktuell sehr schnell zum Strom wird und so versucht, Personen in einem Kollektiv zu verorten. Oder konkret an einem Beispiel: Über die zapatistische Familie, die mit Sturmmasken ihren ehemaligen Anführer Subcommandante Marcos huldigt, können wir schmunzeln. Die Realität kleiner überladener Boote im Mittelmeer, und wie darüber medial berichtet wird, lässt diese Menschen oftmals anonym und vormodern erscheinen. Was hier entsteht, ist eine entindividualisierte Persona.

Zum Abschluss des Textes möchte ich noch ein sehr konkretes Verhältnis zwischen Körper-Kleidung-Gesellschaft benennen: LEUTE MACHEN KLEIDER. Stoffe, Textilien & Gewebe waren und sind konstitutiv für die Entwicklung unserer gegenwärtigen, kapitalistisch organisierten Lebensform. Der rote Faden spinnt sich von den kolonialen Baumwollplantagen Nordamerikas zu den Textil-Fabriken in Südostasien hin zu fast fashion und Körperbildern der Mode-Industrie im globalen Norden. So gesehen besitzen Textilien als Medium eine Vielzahl von Aufladungen und bilden immer auch auch diverse politische und gesellschaftliche Kontexte ab.

Literatur

Benjamin, Walter (2010): Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe. Band 19.  Berlin: Suhrkamp
Hund, Wulf D. (2018): Negative Vergesellschaftung. In: Rassismus und Antirassismus. Köln: Papy Rossa. Seite 16–29.
Macho, Thomas (1999): Das prominente Gesicht. Vom face to face zum Interface. In: Manfred Faßler (Hrsg.): Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität WahrnehmungEthik der Kommunikation. München: Wilhelm Fink. Seite 121–135.