DER FAHRENDE RAUM | Der Fahrende Raum, Aktionsraum „Wir führen uns mal auf”, 2018, Foto: Maximiliane Baumgartner -
Der Fahrende Raum, Aktionsraum „Wir führen uns mal auf”, 2018, Foto: Maximiliane Baumgartner

(English translation below)

Das geplante sowie ungeplante Umherstreifen als künstlerische Form und pädagogischer Partitur beschäftigte den Fahrenden Raum in diesem Jahr in besonderem Maße. Die vorliegende Ausgabe der Flugschrift befasst sich mit prozesshaften Arbeitsformen, sowie mit den Bedeutungsebenen des Vagabundierens innerhalb pädagogisch-künstlerischer Fragestellungen. Hierbei ist auch das künstlerische Wirken und Leben des artist`s artist, Wanderpoeten, Schwabinger Bohémiens, Malers, Monte Verità-Mitbegründers und Tänzers Gusto Gräsers Anstoß gewesen. Die Aktionen und Recherchen des Fahrenden Raums 2018 werden hierzu in Auszügen betrachtet und von den eingeladenen Autor*innen im Verhältnis zu eigenen Blickwinkeln verhandelt.

Die Persona Gusto Gräser ist für den Fahrenden Raum eine Art Patenfigur und so ist ihm das „Performative Gusto Gräser Kinder-Archiv“ gewidmet, das seit 2017 in Zusammenarbeit mit dem Mohr-Villa Stadtteilarchiv Freimann Teil des Fahrenden Raums ist: Kinder und Jugendliche aus dem Stadtteil Freimann – dem Münchner Stadtteil in dem sich Gräser für die letzten 16 Jahre seines Lebens niederließ – und wechselnd eingeladene Künstler*innen befragen und interpretieren seine Lebenszusammenhänge und formale sowie informelle Archivmaterialien seines Schaffens aus Flugschriften, Textbildern und Sinnsprüchen mit künstlerischen Mitteln. Camillo Grewe hat dazu in freier Anlehnung an das Gedicht „Der Sondermann“ von Gräser und in Zusammenarbeit mit Alex Wissel ein Lied vertont und dieser Ausgabe beigetragen. Im Aktionsraum VagabundInnen Treff, der zusammen mit Jonas Beutlhauser und vier von ihm mitgebrachten Gasthühnern dieses Jahr über fast zwei Monate hinweg realisiert wurde, waren seine Spielskulpturen als eigenständig künstlerische Setzungen Teil eines umfassenden Aktions-Settings für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Maximiliane Baumgartner reflektiert anhand des Performativen Gusto Gräser Kinder-Archivs über die Möglichkeiten einer performativen Besprechung und Aneignung von Inhalten und Lebenswegen durch Kinder und Jugendliche, als einer sogenannten Geschichtsschreibung von unten und betrachtet das künstlerische Handeln Gräsers dazu in Auszügen unter performativen Gesichtspunkten. Hasan Veseli war als Gast und Beobachter beim „VagabundInnen Landtag” am 22. Juni im Fahrenden Raum. Er hat seine Eindrücke, eingebettet in eine übergeordnete Fragestellung und Kritik an der oft institutionellen Trennung von Kindern und Erwachsenen innerhalb von Formaten der Kunst und Kunstvermittlung, in einem Beitrag festgehalten.

DER FAHRENDE RAUM | Setting, Aktionsraum „VagabundInnen Treff”, mit „Wortfeuerzeug” (Spielskulptur) von Jonas Beutlhauser, 2018 -
Setting, Aktionsraum „VagabundInnen Treff”, mit „Wortfeuerzeug” (Spielskulptur) von Jonas Beutlhauser, 2018

Räumen kommt heutzutage eine vordefinierte Rolle zu. Sie werden produziert und organisiert. Die beteiligten Künstler*innen, Pädagog*innen und Theoretiker*innen interessierten sich bei der Gestaltung des künstlerisch-pädagogischen Aktionsraum „Schwarmstoff“ für den Produktionsbegriff von Raum und die darin gemeinschaftlich stattfindenden Prozesse und Strukturen. Für den französischen Soziologen Henri Lefebvre (1901–1991) sind Räume ein gesellschaftliches Produkt, denen nach der marxistischen Theorie ein Tausch- oder Gebrauchswert zukommt. Ausgangspunkt war es, den Fahrenden Raum mit Kindern und Jugendlichen durch Bewegung zu erforschen, um dabei auch sich selbst als einen Raum zu begreifen, welcher von Anderen geprägt ist. Doris Koopmann beschreibt in ihrem Text das Übergangsritual als Methode um Räume zu ermöglichen, Störmomente und Loslösungen von Strukturen und Zustandsveränderungen zuzulassen. Martin Haufe vergleicht gesellschaftliche Prozesse mit Gewebe, dessen repetitive Struktur und hierarchische Anordnung von Stoffbahnen und Fäden wie ein Verweis-System wirken, welches Räume durch Selbst- und Fremdzuschreibung in Form von Symbol nd Image beeinflusst. Jelena Vesić und Vladimir Jerić Vlidi, Gasttheoretiker*innen des Fahrenden Raums, stellen in ihren Beiträgen weitere Projekte, die in der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre im Kontext spezifischer Formen des Sozialismus entstanden und gelebt wurden, der zeitgenössischen projektbasierten Arbeit von aktivistisch arbeitenden, kulturellen Akteur*innen gegenüber. Vladimir Jerić Vlidi hat dazu für diese Ausgabe ein Video-Essay beigetragen.

Ein Nachdenken über situative pädagogische Handlungsräume und prozesshaftes Arbeiten berührt aber auch grundlegende Fragen nach der Zurichtung von Lern- und Zeiträumen der Kinder und Jugendlichen durch Schule sowie andere Institutionen und Autoritäten heute. Der Fahrende Raum, der sich innerhalb des außerschulischen Felds verortet und seine Programme im Spannungsfeld von Kunst und Pädagogik in Aktionsräumen denkt, geht daher auch der Frage nach, inwieweit sich Kindern und Jugendlichen heute noch die Gelegenheit bietet, sich außerhalb denen ihnen zugewiesenen Orten eigene Räume zu erschließen. Wie Pädagog*innen und Künstler*innen sie darin sinnvoll unterstützen können?

In dem mit der Künstlerin und Lehrenden Karolin Meunier zusammen organisierten Projekt „Phasenweise nicht produktiv“ wird der Begriff der Produktivität eine Art Gradmesser hinsichtlich verschiedener Vorstellungen der beiden Arbeitsfelder Performance und Vermittlung: wann Vermittlung für wen unproduktiv wird, aber auch, wie nicht-produktive Phasen bewusst zugelassen oder das Herausfallen aus allzu effizienten Abläufen provoziert werden kann. In dem gleichnamigen Text leuchtet Karolin Meunier dieses Verhältnis weiter aus. Innerhalb dieses Projekts waren auch Eva Egermann und Romy Rüegger als Residency-Künstler*innen des Fahrenden Raums eingeladen. Eva Egermann skizziert in ihrem Beitrag die Karaoke-, Verkleidungs und Zeitungswerkstatt des Aktionsraums „Cyborg Disko Werkstatt“ als Möglichkeitsraum, in dem die Beteiligten der Cyborg folgend über Posen und Performen plurale Identitäts- und Körperkonzepte verhandeln und performatives künstlerisches Handeln ausprobieren konnten.

Kinderproduktionen aus den Aktionsräumen 2018 durchziehen diese Ausgabe der Fahrenden Raum-Flugschrift. Ergänzt werden sie durch Geschichten von Kindern und Jugendlichen, übersetzt in ihre Primär- und Sekundärsprechen. Die Geschichten sind im Aktionsraum „Wir führen uns mal auf – Die Kinderbuchsammlung zu Gast im Fahrenden Raum“ entstanden und wurden von den Kindern und Jugendlichen in Teils responsiven Bezügen zur gastierenden Sammlung von Luca Beeler, Carmen Tobler und Cédric Eisenring produziert.

ENGLISH TRANSLATION

Editorial
Action spaces—Pedagogical Scores and Artistic Routes
Doris Koopmann / Maximiliane Baumgartner

Der Fahrende Raum focused particularly on planned and unplanned wandering as an artistic form and pedagogical score this year. This issue of the annual Flugschrift addresses process-based forms of work, as well as the different meanings of roaming around in educational and artistic enquiry. A stimulus for this was also the artistic work and life of Gusto Gräser, the artist’s artist, traveling poet, Schwabing Bohemian, painter, Monte Veritàs co-founder, and dancer. Der Fahrende Raum’s actions and research in 2018 are examined in texts here and the invited authors negotiate them in relation to their own perspectives.

Gusto Gräser is a sort of godparent figure for Der Fahrende Raum and that is why the Performative Gusto Gräser Children’s Archive, which has been part of Der Fahrende Raum in collaboration with the Mohr-Villa Stadtteilarchiv Freimann since 2017, is dedicated to him: children and teenagers from the Freimann district—the Munich district where Gräser was resident for the last 16 years of his life—and a roster of invited artists use artistic means to interrogate and interpret his life as well as formal and informal archival materials about his work from pamphlets, text images, and aphorisms. In collaboration with Alex Wissel, Camillo Grewe has set a song to music in the style of the poem “Der Sondermann” by G. Gräser and contributed to this issue. The action space VagabundInnen Treff (Vagabond`s hangout) was realized over almost two months with Jonas Beutlhauser and four chickens he brought with him. In it his play sculptures, as stand-alone artistic settings, were part of a comprehensive action environment for children, teenagers, and adults. Hasan Veseli was at the VagabundInnen Landtag (Vagabond convention) at Der Fahrende Raum on June 22 as a guest and observer. He recorded his impressions in an article, embedded in an overarching interrogation and critique of the often institutional separation of children and adults within art and art education formats.

Using the Performative Gusto Gräser Children’s Archive, Maximiliane Baumgartner reflects on the possibilities for children and teenagers to performatively discuss and appropriate divergent topics and visions of life that are part of a tradition of so-called history from below. In this regard she considers segments of Gräser’s artistic activities from various performative perspectives.

Nowadays, spaces have a predefined role. They are produced and organized. The starting point of the Schwarmstoff (Swarm material) action space was to use movement to explore Der Fahrende Raum with children and teenagers, in order to understand oneself as a space shaped by others. In the designing of the artistic educational setting the artists, educators, and theoreticians involved were interested in the concept of production of space and the communal processes and structures that take place in it. For the french sociologist Henri Lefebvre, spaces are a social product that, according to Marxist theory, have an exchange or utility value. In her text, Doris Koopmann describes rites of passage as a method for opening up spaces, for allowing moments of disruption, departures from existing structures, and changes of state. In their articles “The Production of Space”, Jelena Vesić and Vladimir Jerić, guest theorists at Der Fahrende Raum, contrast further projects that emerged and existed in the context of specific forms of socialism in the post-war period until the 1980s with the contemporary, project-based work of activist, cultural agents. Vladimir Jerić Vlidi also contributed a video essay to this issue. Martin Haufe compares social processes with fabric whose repetitive structure and hierarchical configuration of panels and threads act as a reference system, influencing spaces through internal and external attribution in the form of symbols and images.

However, thinking about situational educational action spaces and process-based work also touches upon fundamental questions about the preparation of learning spaces and time frames for children and teenagers by schools and other institutions and authorities today. Der Fahrende Raum, which situates itself within the extracurricular field and conceives of its programs as located in the interplay between art and education in action spaces, therefore also tries to interrogate the extent to which children and teenagers still have the time today to develop their own spaces outside the locations allocated to them? How can educators and artists meaningfully support them in this?

In the project Phasenweise nicht produktiv (Not productive at times), which was organized with the artist Karolin Meunier, the concept of productivity is a kind of indicator of different notions of both fields of performance and education: when does education become unproductive to whom, but also how unproductive phases can be consciously approved, or how dropping out of overly efficient processes can be triggered. In the text of the same name, Karolin Meunier sheds further light on this relationship. As part of this project, Eva Egermann and Romy Rüegger were also invited to Der Fahrende Raum as resident artists. In her article, Eva Egermann outlines the fusion of the karaoke, disguise, and newspaper workshop of the action space Cyborg Disco Workshop as a space of possibility, in which the participants, following the cyborg, were able to negotiate plural concepts of identity and bodies through poses and performances and try out performative artistic action.

Children‘s productions from the 2018 action spaces are woven through this issue of the Flugschrift. They are supplemented by translated stories by children and teenagers written in their primary and partly in their secondary languages. The stories were created in the action space Wir führen uns mal auf—Die Kinderbuchsammlung zu Gast im Fahrenden Raum (Just acting up!—The children‘s book collection as a guest at Der Fahrende Raum) and were produced by the children and young people in part as a response to the guest collection by Luca Beeler, Carmen Tobler, and Cédric Eisenring.