(Englische Übersetzung siehe unten)
Seit den 1940er Jahren entstanden in England – aus der Erkenntnis, dass Kinder nach Feierabend gerne auf Baustellen spielten – sogenannte junk playgrounds, Abenteuer-Spielplätze (1), oft von engagierten lokalen Communities getragen und betreut. Kinder machten Gebrauch von den nach dem blitz (2) entstandenen Brachen.
Das Buch „Das Kind in der Stadt“ erschien 1978 in der deutschen Ausgabe mit einem Coverfoto von Abisag Tüllmann sowie etwa 200 Fotos u.a. von Ann Golzen, Barbara Klemm, Dieter Kramer. Kapitel wie „Die Benutzung der Stadt“, „Die Kolonisierung kleiner Flecken“, „Spiel als Protest und Erkundung“, „Regal auffüllen im Supermarkt“, „Das Mädchen im Hintergrund“ unternehmen eine umfassende Darstellung – weltweit und mit einem besonderen Blick auf Klassenunterschiede.
In Kopenhagen wurde der legendäre Spielplatz „Skrammellegeplads“ in Emdrup von einer Kooperative für das Wohnen von Arbeiter*innen ins Leben gerufen. Auch einige Protagonist*innen aus dem Münchner und Nürnberger Kreis von Spielaktivist*innen und Kunstpädagog*innen namens KEKS, aus dem später die Päd-Aktion entstand, benennen als wichtige Inspiration für den Wunsch nach nicht disziplinierendem Spiel ihre Kindheit im Nachkriegsdeutschland, das eigene wilde und unkontrollierte Spielen in Ruinen.
Welches sind Räume in der Stadt, die ein offenes Umherschweifen ermöglichen? Bebauter und versiegelter Grund ergänzt die durchgestaltete Stadtmöblierung. Wie viele undefinierte Brachen gibt es denn noch? Was liegt einfach so herum und ist benutzbar und verbaubar? Wie viel unverplante, nicht zugewiesene Zeit gibt es? Brachen in den thinner cities (Colin Ward) dem Markt zu entziehen, erfordert konsequente politische Entscheidungen.
Demonstrationen für Spielplätze, ein Guerillazugang für Kinder zur Venedig-Biennale, Autoabgase abfüllen für ‚Saubere Luft’, ein tief ausgebaggertes Loch bei der Spielaktion Johannisplatz 1971: „Päd-Aktion ist eine Absage an die Individualmystik. … Sie greift real ein (Aktion) und organisiert sich als kollektives Subjekt. … Das Material der ästhetischen Produktion sind nicht mehr die Verarbeitungsmaterialien und Techniken der Kunst, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche. … Die Herstellung einer Situation. … Das mündet in ästhetische AKTION.“ (3) Aktion bedeutet demnach eine Herstellung von Lernsituationen, die auf kollektiv-gesellschaftlicher Wirksamkeit insistieren. Die Dokumentation der spielerisch-pädagogischen Handlungen ist dabei Programm.



Im Materiallager des Vereins „Kultur & Spielraum“ fanden sich Super 8-Filme aus den 1970er bis 1980er Jahren der Päd-Aktion. Einige davon wurden in den letzten Jahren digitalisiert. Die Super 8-Filme, die im Rahmen der Straßenaktionen entstanden sind, weisen eine Bandbreite auf: von einfacher, stummer Dokumentation bis zu versierten Montagen mit Musik- und Offtext. Die Filme entstanden mit Kindern, aber unter Anleitung, und wurden zum Teil zusammen nachsynchronisiert und montiert. Ein kleines projekteigenes Filmstudio arbeitete daran, die eigenen Werkzeuge transparent zu machen. Oft wirkt die Kameraarbeit interessiert an einem Überblick, an den kollektiven Situationen, mit starkem Bewusstsein für die Einbettung in die städtische Umgebung.
Die pädagogische Aktion bekam 1972 den offiziellen Auftrag, das Spielkonzept für die Olympiade zu entwickeln. Der Film DIE KINDEROLYMPIADE (S8, stumm, 16’21’’) entwickelt spielerische Abweichungen zum unhinterfragten Einüben von Wettbewerb. Eine Hütte, ein Podest auf Bierkästen, eine flatternde Fahne mit olympischen Ringen, eine Tafel, auf der die Disziplinen annonciert werden. Die Kinder tragen als Trikots einfache Pelerinen aus Papier oder Plastik. Abzeichen und die riesigen Medaillen sind mit klecksig roter Farbe gemalt. Ein schöner Rundumschwenk von oben. Die knallrote Startfahne wird in den Brunnen, ins olympische Wasser getaucht, das Melodika-Orchester spielt. Dann schweift der Kamerablick in die Ferne, am Fuß des Hügels sind die offiziellen Fahnen von 1972 in ihren hellblauen und hellgrünen Fröhlichkeitssignalen zu sehen. Für den Schwimmwettbewerb robben und krabbeln die Kinder auf dem Bauch über eine große silberglänzende Plane, beim Gewichtheben sind leere Bierkästen die Gewichte, das Trabrennen ist ein Huckepacklauf.
UNLÄNGST – SO UM DIE MITTAGSZEIT lautet der Anfangstitel eines weiteren Super 8-Films: Ein Junge lehnt an einer Hauswand, guckt freundlich frontal in die Kamera und spricht den Titel: DAS OHR (4). Dieses Ohr ist riesig und wird von vier bis fünf Kindern durch die Stadt getragen, weit hinten an einer Kreuzung taucht es zum ersten Mal auf. Es ist hautfarben und pastos verspachtelt. So richtig gut trägt es sich nicht, aber das Gewackel, der Slapstickeffekt macht nicht nur den tragenden Kindern Spaß, sondern auch beim Zusehen. Es lässt sich noch am besten am Tragus zupacken und am Ohrläppchen. Abgestellt lädt es zum lässigen Drinsitzen ein. Ein längerer Plausch ergibt sich mit den Obdachlosen am Weißenburger Platz. Ein improvisiertes Mikrofon kommt ins Bild. Welche Stimmen in der Stadt, im öffentlichen Raum sind eigentlich gesellschaftlich hörbar? Wer schenkt wem (s)ein Ohr? Wo das Ohr abgestellt wird, scheint es, als könne man die Leute hinter den Hauswänden reden hören. Die Kamera setzt Größenverhältnisse im Stadtraum in Szene. Mal wirkt das Ohr in der Totale hoch wie ein Stockwerk, mal verschwindet es zwischen den Autos, urplötzlich wird es ganz nah durchs Bild geschoben. Beim Schild‚ ’Facharzt für Ohrenleiden’ endet der Film.



Der von dem planungskritischen Promenadologen Lucius Burckhardt 1993 initiierte Windschutzscheiben-Spaziergang auf einer größeren Verkehrsstraße in Kassel verweist auf andere Weise auf die Sinne im Stadtraum, darauf, wie Windschutzscheiben den Blick auf die Stadt prägen, wie sie abschirmen und einschränken, und ob die autogerechte Stadt das Maß der Dinge sein sollte. (5)
Der kleine Ernesto in dem Film EN RACHÂCHANT von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub (1986) (6) weigert sich, in die Schule zu gehen um etwas zu lernen, was er schon weiß. Auf grundsätzliche Weise bestreitet Ernesto jegliches erzieherische Unternehmen und beweist außerdem in seinen Entgegnungen, wie genau er gesellschaftlich sanktionierte Gewalt erkennt. Filme wie J’AI HUIT ANS / ICH BIN ACHT JAHRE ALT (7) von Yann Le Masson (1961) oder LES ENFANTS DE LA GUERRE (8) von Jocelyn Saab (1976) hatten die Funktion, anhand der Erfahrungen, der Zeichnungen und Spiele von Kindern Empathie gegen den Krieg zu wecken. Zwei frühe Filme der belgischen Künstlerin Sarah Vanagt (9) erzählen eindrucksvoll von produktiver Subjektivierung und Verarbeitung von Kriegserfahrungen in Kinderspielen an der Grenze zwischen Ruanda und der Republik Kongo.
Die Empfindlichkeit gegen die Funktionalisierung von Kindern im Rahmen künstlerischer Arbeit sowie gegen Herablassung in vermeintlich partizipativen Projekten ist gewachsen. Zur kulturellen Bildungsarbeit gehört inzwischen auch die Medienerziehung mit Endgeräten. Gibt es deshalb mehr von Kindern selbstbestimmt gemachte Filme?
Die fünfjährige Solvej Heise drehte im Zusammenspiel mit ihren Künstlereltern zwei eindrucksvolle Videos im Rahmen des Projekts „tv-tv“ der Copenhagen Free University (10): Der erste Film THE BLACKBIRD erforscht als Reportage mit Augenzeugen-Interviews das Drama zweier kleiner Amseln, die aus dem Nest gefallen waren, inklusive detaillierter Spurensuche im Keller und einem mit Gezwitscher animierten Lego-Portrait der Amselmutter. Der zweite Film HAMBURG TOWN handelt als meist subjektive Kamera-Untersuchung einiger Hamburger Spielplätze von deren Tauglichkeit für Solvejs Spielplatzbedürfnisse. Im Off kommentiert Solvej Heise, während sie die Geräte ausprobiert: Wie viel Mut erfordert welches Klettergerüst, wie viel Spaß macht welche Rutsche?



(1) Nils Norman dokumentiert 59 Abenteuerspielplätze in seiner Publikation. Norman, Nils (2003): An Architecture of Play. A Survey of London’s Adventure Playgrounds, Four courners book. (Kostenlos erhältlich auf seiner Homepage: www.dismalgarden.com/sites/default/files/architecture-of-play1.pdf.) Dort sind auch kommentierte Fotos aus seinem Archiv zu finden. Der erste Abenteuerspielplatz hierzulande nach englischem Vorbild entstand 1967 im Märkischen Viertel in Berlin.
(2) Als „The blitz“ werden die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs bezeichnet.
(3) Siehe: Flugblatt, aus „Aktionsraum Biennale `70 Venedig“, KEKS. Offizieller Beitrag zur 35. Biennale in Venedig, 1970. KEKS Archiv
(4) 1976 entstanden beim Kino-Mobil in Haidhausen: Hieronymus Winzker, Grisi Ganzer (12 Jahre), zusammen mit Regisseuren und der Kinderfilmgruppe Haidhausen.
(5) Siehe: www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,2696,1,0.html
(6) Die Straubs hatten Marguerite Duras’ Erzählung und Kinderbuch „Ah! Ernesto“ als Vorlage für ihren Film gekapert.
(7) Die Zeichnungen der Kinder entstanden während des algerischen Befreiungskriegs in einem Waisenhaus in der Nähe von Tunis. Der Film wurde in Frankreich 17-mal beschlagnahmt und bekam erst 1974 die Visa-Freigabe.
(8) Während des Bürgerkriegs im Libanon produziert.
(9) BEGIN BEGAN BEGUN (2005) und FIRST ELECTIONS (2006).
(10) THE BLACKBIRD/Solsorten, 2005 15’,
HAMBURG TOWN/Hamborgs, 2005, 15’. Im Nachspann steht: Produktion: Solvej Heise, Henriette Heise, Jakob Jakobsen für „tv-tv“.