
(English translation below)
Der Fahrende Raum griff mit seinem Herbstprogramm „Café Größenwahn“ auf frühe Formen einer Kulturpädagogik der 70er Jahre zurück, welche mit ihren Aktionsräumen das Spiel der Kinder aus randständiger Beachtung für das Aufwachsen in einer Stadt wieder ins Licht einer Gesellschaft zu rücken versuchte, die aus vielerlei Gründen, vor allem ökonomischen, allzu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Darüber hinaus stand seinerzeit eine kulturelle Neuorientierung noch immer aus, war doch sowohl das Kulturverständnis allgemein wie das der pädagogischen Institutionen nach wie vor unverändert traditionell-konservativ geprägt und verhinderte durchgängig gesamtgesellschaftlich notwendige Anpassungen wie Gegenentwürfe. Ein rein kognitiv ausgerichtetes Bildungsverständnis hatte auch damals schon eine neoliberale Prägung und war allein auf die optimierte Produktion von Humanressourcen ausgerichtet. Dagegen eine neue, emanzipatorische Kulturarbeit zu entwerfen, welche ein soziales Mandat – verstanden als gesellschaftliches – beanspruchte, war gerade noch den Kunstavantgarden zugestanden. Ähnliches für eine neue Ästhetische Erziehung – gegen das herkömmlich Musische im Erziehungsbereich – zu realisieren, war erst mit den neuen Programmatiken wie „Kultur für alle“ und „Demokratisierung des Ästhetischen“ möglich. Diese wurden dann von progressiven Kulturvertretern wie Hilmar Hofmann, Hermann Glaser und anderen nicht nur theoretisch vertreten, sondern auch praktisch gefördert.
Neben der Hochkulturpflege konnte von da ab im Rahmen von Soziokultur, Stadtteilkultur und Populärkultur auch eine produktive Kulturarbeit für Kinder etabliert werden. Eine solche entwickelte sich vor allem als neue Kunst- und Theaterpädagogik in außerschulischen (Frei-)Räumen, entweder in ungenutzten Fabrikhallen, Straßenbahndepots oder auf Grünflächen, die oft noch wildwüchsig und ohne stadtgärtnerische Veredelung für temporäre Nutzungen verfügbar waren. Dies verschaffte neben vielen Kulturinitiativen auch unserer jungen Aktions-, später Kulturpädagogik ein spannendes Experimentierfeld für raumgreifende Spielinszenierungen: Diese entstanden aus ausrangierten Theaterkulissen, alten Messewänden, entnageltem Bauholz und unspezifischen, anderen Baumaterialien. Die dabei entstehenden Binnenräume wurden mit Möbeln und Trödel (Arbeitstische, Stühle, Sofas, Regale) aus Speichern und vom Sperrmüll ausgestattet. Und zu guter Letzt, je nach angesagtem Spielthema, mit seriösen Arbeitsgeräten, Werkzeugen, Maschinen und Verbrauchsmaterialien (Papier, Stifte, Farben, Kleber, Schnüre, Ton, Gips, usw.) eingerichtet, so dass die Kinder in selbstgewählte Spielrollen schlüpfen konnten und ihr Spiel begann: laut, bewegungsintensiv, impulsiv und produktiv, brückenschlagend zwischen Phantasiewelt und Wirklichkeit, auch chaotisch, aber festgemacht an eigenen Vorstellungen und Ideen im Horizont ihrer Erfahrungen. Bei Bedarf fragten sie bei den mitspielenden Erwachsenen nach, suchten dort Rat und technische Unterstützung. Und das Entscheidende: Die erwachsenen Pädagog*innen boten nicht nur den inszenierten Raum zum anregenden Spiel, sondern wurden darin ebenso Mitspieler*innen und spontane Akteure, ohne schon, wie ein Lehrer oder eine Lehrerin, zu wissen, wohin es führen und welche Wendungen es nehmen wird.
In diesem hier kurz skizzierten offenen, aber nicht formal-didaktisch strukturierten Milieu – mit seinen methodisch vielfältig experimentierenden Gestaltungs- wie Ausdrucksformen, immer auch orientiert an neuen Kunstpraxen – eröffneten sich den Kindern ästhetische Erfahrungen als elementare Basis sinnlich-materieller Aneignung von Lebenswelt, als Ausbildung und Entfaltung von produktiver Sinnlichkeit.


Ästhetische Annäherung an die Wirklichkeit
„Die ästhetische Aktivität ist ein Teil des Prozesses, in dem der Mensch sich in Wechselwirkung mit der objektiven Welt als Subjekt entfaltet“ (Fuchs, 1998).
Mit einem ähnlich programmatischen Anspruch traten junge Kunsterzieher*innen in den 70er Jahren an, eine Reform der Kunstpädagogik einzufordern, welche sich nicht mehr auf einen hermetisch nach außen abgeschlossenen Raum (Klassenzimmer) einschränken ließ, sondern welche die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen auf eine erweiterte Umwelt richtete. Zugleich sollten auch ihre Tätigkeiten und Gestaltungsaktivitäten in dieser Umwelt Eingang finden. „Wir wollen die Vorstellungskraft in Aktion…“ lautete die Schlagzeile in einer der ersten Flugschriften von KEKS (1970), und weiter: „Aktionen sind experimentelle Planspiele. Sie helfen, den Spiel- und Entscheidungsraum des Einzelnen zu erweitern, notwendige Grenzen zu tolerieren und in fortwährenden, spontanen Übereinkünften gesellschaftliches Bewusstsein zu erwerben.“
Hierbei vereinigten sich die kunstvermittelnden Positionen der Pädagog*innen mit denen der Künstler*innen, welche nach erweiterten Kunstpraxen suchten, wie Joseph Beuys beispielsweise in Form einer „Sozialen Plastik“. In dieser Vorstellung sollte sich die ästhetische Aktivität mit Aktionen gesellschaftlicher Veränderungen vereinen. Zu verstehen wäre dies als eine Kunst, die darauf zielt, auf die Gesellschaft gestaltend einzuwirken. Jeder Mensch sei in diesem Sinne ein Künstler, dem künstlerische Kreativität zukomme. Und wenn der oft zitierte Satz von Friedrich Schiller – „Der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – irgendeine Relevanz für die Ästhetische Bildung hat, dann muss er im Besonderen auch für Kinder gelten. Gerade deren Spiel ist evident als performativer Prozess der ständigen Selbstinszenierung zu sehen, mit dem ausschließlichen Beweggrund, sich der Welt und ihrer Wirklichkeit(en) anzunähern. Ohne (im positiven Sinne) provokative Bewegtheit eröffnen die Dinge und Werkzeuge weder die in sie eingeschlossenen Wesenheiten, noch offenbaren diese die symbolisch verschlüsselten kulturellen Tatsachen: Wer nicht abwäscht, zerschlägt kein Geschirr, und wer die Nuss nicht zerschlägt, wird nie etwas über ihr Inneres erfahren. Allein die Aktion enthüllt die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu, 1984).


Die Kulturelle Bildung reklamiert nun für sich, dass sie diesen Prozess mit und in den Künsten als Selbstbildungsprozess dem Individuum ermögliche. Undiskutiert aber bleibt, dass dieser Prozess, wenn er nicht nur über Wissensvermittlung (also Belehrung) erfolgen soll, als Ergebnis eigener sinnlicher Erfahrungen gelingen muss. Diese selber wären Quelle von Wissen und Erkenntnis. Nur leider sind sie ohne Vermittlung nicht zu haben, denn nahezu alle Bereiche der lebensweltlichen Umwelt sind gegen Zutritt von Kindern abgedichtet. Zugleich sind die Orte, an denen kulturelle Bildung stattfindet, in sich geschlossen, um die Kinder in ihren Tätigkeiten und ihrer Kreativität vor äußeren Einflüssen, so wird argumentiert, zu schützen.
Wer überhaupt noch Kinder im öffentlichen Raum antrifft, kann leicht feststellen, dass sie dort unbeeindruckt von Publikum spielen und ungeniert den dabei notwendigen, affektiven Auseinandersetzungen nachgehen. Zur aktionistischen Bespielung des öffentlichen Raums ist gemeinhin eine Nutzungs-erlaubnis verlangt und selbst noch auf einem Spielplatz ist sie nötig, wenn man mehr als Schaukeln und Ballspielen will. Den Kindern den Zugang in die Bereiche der Lebenswelt zu erschließen, ihnen Material und Informationen zu selbstorganisierten, sinnlichen Erfahrungen verfügbar zu machen, braucht deshalb nach wie vor Vermittler*innen, die im geglückten Fall Mitspieler*innen werden.
„Die Erfahrung, dass alles auch ganz anders sein könnte, ist die wohl wichtigste Erfahrung in Bildungsprozessen. Die Entdeckung von Möglichkeiten, Perspektivwechseln und transformatorischen Selbst-Bildungsprozessen ist zentral für eine gelungene kulturelle Bildungssituation und das, wofür es sich lohnt, Strukturen und Qualitäten kultureller Bildung zu entwickeln“ (Reinwand-Weiss, 2013/12). Solange sie sich aber nur eingehegt in „Schonräumen“ abspielen, werden sie keine Wirkung in die Gesellschaft entfalten!
In diesem Sinne war das Projekt des Fahrenden Raums in einem kleinen Park im Stadtteil Freimann öffentlich organisiert und inhaltlich materialisiert.
Café Größenwahn –
Eine Künstler*innen-Kolonie
8.9. bis 11.10.2019,
Hummelwiese
Der Aktionsraum widmete sich den Lebensumständen in München Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Einwohnerzahl der Stadt war sprunghaft um eine halbe Million gestiegen. Viele Künstler*innen, Literat*innen, Maler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen, aber auch gesellschaftskritische Reformer*innen und Lebenskünstler*innen hatten sich schon in der nahegelegenen Vorstadt Schwabing niedergelassen. Nun zogen viele, die sich die Mieten auch dort nicht mehr leisten konnten, weiter hinaus nach Freimann, trafen sich aber immer noch in ihrem angestammten „Künstlerquartier“, in Gasthäusern und Kneipen, die ihnen als geselliger Treffpunkt dienten und Kontakte sowie Auftrittsmöglichkeiten boten. Ein besonders beliebter Ort war für viele das „Café Stefanie“, das von den Bürger*innen und bereits etablierten Künstler*innen den leicht spöttischen Beinamen „Größenwahn“ erhalten hatte. Dieses entstand nun im Fahrenden Raum mittels Kulissen und Kaffeehaus-Möbeln, einer Theke und einer großen Bühne.

Die erste Aktionswoche war zunächst dem Bau von „Werkstätten und Ateliers“ gewidmet. Diese entstanden aus Bauholz, Brettern, Balken, Dachpappe usw. und wurden anschließend, soweit die Zeit reichte, noch bemalt. Für folgende Künstler*innen wurde gemeinsam mit den Kindern gebaut:
– Lotte Pritzel: Puppenkünstlerin, die grazile, wundersam gewandete Figurinen herstellte
– Gusto Gräser: Wanderpoet, Maler und „Naturapostel“, der eine Zeitlang Schüler des Malers Karl W. Diefenbach war
– Anita Augspurg: Aktivistin, die samt Lebensgefährtin Sophia Goudstikker das Fotoatelier Elvira erfolgreich führte
– Anton Azbe: anerkannter Maler, der eine vielbesuchte Malschule betrieb, aus der viele später berühmt
gewordene Schüler kamen (Jawlensky, Kandinsky, Werefkin, u.a.)
– Panagiotis Gkritzos: Lichtmagier und Tonkünstler
– Joachim Ringelnatz: Poet und Reimdichter (ehemals Zigarrenladenbesitzer)
– Eine besondere Einrichtung war der „Modell-Markt“ für Künstler*innen und Bildhauer*innen an der Kunstakademie, bei dem sich (auch seinerzeit schon) Kinder bewarben, um damit ihre Familien finanziell zu unterstützen.
Die gemeinsamen Bau- und Maltätigkeiten boten bereits die Gelegenheit, den Kindern von den Künstler*innen und ihren Lebensumständen wie auch von den allgemeinen, geschichtlichen Ereignissen der Entwicklung Münchens zu erzählen. Die bildliche Vorstellung wuchs spätestens mit der Erstellung eines großen Wandbilds. Auf diesem zeigte sich die Stadt von Norden aus, wo gerade die Feldherrnhalle an Stelle des abgerissenen Schwabinger Tors entstand, aber noch die Landstraße hinaus nach Schwabing und Freimann verlief. Ansonsten breiteten sich Wiesen und Felder rund um die Stadt aus. Bald darauf sollte die Ludwigstraße über sie hinweg führen. Die Münchner*innen hielten ihren König nun für ganz verrückt, denn niemand konnte sich vorstellen, welche Bauentwicklung die Stadt dadurch in Kürze nehmen sollte. Für die Stadterweiterungen nach Westen hinaus (die neue Max-Vorstadt) reichte leider die (Aktions-) Zeit und für die Dörfer Schwabing und Freimann der Platz (auf der Leinwand) nicht mehr. Jeden Abend kamen einige Eltern vorbei, um die Kinder abzuholen, aber auch um den Baufortschritt der kleinen Künstler*innenkolonie zu begutachten. Bei der Gelegenheit griffen manche Elternteile zu Hammer und Säge, damit ein Bauwerk noch vollendet werden konnte oder halfen beim Auftrag der Ziegelmauern mittels Schwamm und Wandfarbe.
Zum Ende der Woche waren die Ateliers bezugsfertig und wurden am Wochenende von den Künstler*innen, die in den nächsten Wochen dort einzogen, mit Möbeln eingerichtet und mit ihren Werken geschmückt, so dass die Kinder zu Beginn der kommenden Woche auf jeden Fall eine bildhafte Vorstellung sowohl von den Künstler*innen bekamen wie von ihrem Schaffen, ohne dass sie sich lange erklären mussten. In der Regel klärten schon die Materialien und Werkzeuge darüber auf, was in den unterschiedlichen Ateliers und Werkstätten an künstlerischen Tätigkeiten möglich war: Schreibmaschinen, Bleistifte, Papier, Druckstempel verschiedener Größen, Druckerwalzen und Linol-Drucksachen deuteten schon an, dass es sich um die Schreibwerkstatt von Ringelnatz handelte. Stoffreste, Draht und Nähutensilien verwiesen auf die Puppenbauwerkstatt, Theaterkostüme, Hüte und viele Requisiten auf den Modell-Markt usw.

In der zweiten Woche besuchten an den Vormittagen jeweils zwei Schulklassen den Aktionsraum und an den Nachmittagen standen allen Kindern, die wiederkamen oder von dem Trubel rund um die Häuschen angelockt wurden, die Ateliers mit ihren Angeboten offen. Der Schulklassenbetrieb bleibt Unterricht, da lässt sich wenig daran ändern. Der Mehrwert unsererseits findet sich darin, dass sich von den Schulkindern der eine oder die andere am Nachmittag wieder einfinden, weil sie entweder ihr Werk noch fertig stellen oder etwas anderes, wozu sie am Vormittag nicht gekommen waren, noch machen wollten. Der Freiluftversion kommt zu Gute, dass sich die Kinder anders sortieren, ihren Ort im Aktionsangebot selber suchen und jederzeit wechseln können. Die gleichzeitig laufenden Werkstätten machen das Wandern dazwischen, einmal zuschauen und dann etwas anderes ausprobieren, zu einem fluiden Möglichkeitsraum: Man ist zu nichts verpflichtet und kann sich selbst immer wieder neu entscheiden. Und vor allem ist man freiwillig hier! Erstaunlich ist und bleibt bei diesem „aktionistischen“ Betrieb, dass trotz der ständig bewegten, lebhaft geschäftigen, von vielen Gesprächen durchwobenen, so gar nicht von Konzentration geprägten Atmosphäre in jedem Atelier zu guter Letzt so viele, zum Teil auch sehr schöne Produkte (Texte, Bilder, Fotos, Puppen) entstanden.
Die Tätigkeiten der Künstler*innen, affektgeladen mit ihrer Mischung aus Profession und gespielter Historizität, verweben sich mit dem Spiel der Kinder, angelehnt an ihre Erfahrungen und angereichert mit ihren Phantasien, zu einer neuen Wirklichkeit, die über die bestehende hinaus tatsächlich Visionen eröffnet, dass alles anders sein könnte: Schule, Alltag und die kulturellen Tatsachen. Zumindest für den geglückten Augenblick.
Als Fazit der hier in Kürze dargestellten, offenen Aktionsform bleibt, dass der Blick der Kinder auf die Alltagswelt ihres Stadtteils wie ihres Wohnumfelds durch die Einbettung in einen ihnen bisher unbekannten historischen Kontext (als ästhetisch inszenierte Erzählung), eine Erweiterung erfahren hat. Bleibt zu erwarten, dass sie bei der nächsten Aktionsrunde des Fahrenden Raums wieder dabei sein werden.
Fuchs, Max (1998): Kulturelle Bildung undd ästhetische Erziehung. Köln.
Vgl. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (2013/2012): Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung.
In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kuenstlerische-bildung-aesthetische-bildung-kulturelle-bildung
(letzter Zugriff am 18.06.2019)
