„Nach 36 Jahren Schule als Lehrerin, als vierfache Mutter und sechsfache Großmutter kann ich sagen: Unterricht ist überbewertet“ (Eva Gottstein).
Die Vizevorsitzende des Bildungsausschusses im Bayerischen Landtag hat mit ihrer Aussage einen empfindlichen Nerv getroffen, wie die heftigen Reaktionen vieler Experten der aktuellen Bildungsdiskussion zeigten (Politiker, Pädagogen, Eltern). Daraufhin schränkte sie ein, dass gemeint war, dass die Schüler in der G9-Über-holspur das Vertrauen erhalten sollen, dass sie auch lernen, obwohl es keine Noten gäbe. Damit hat sie ein Kernproblem angerührt, das alle Bildungsdiskussionen wie Reformbemühungen von Schule seit ihrer Einführung und aktuell seit der ersten Pisa-Studie durchzieht. Gesellschaftliche Umbrüche (politisch, ökonomisch, kulturell) verlangen jeweils angepasste pädagogische Arbeitsprozesse wie insgesamt jeweils eine Veränderung der Lernkultur. So einsichtig die Forderung klingt, so kompliziert sind die Verhandlungsprozesse darüber, wie sie in der Praxis gestaltet werden sollen und können.

Weil wir das
Lernen nicht lassen können!
Anstatt eigene Argumente zu wiederholen, sei ein wissenschaftlich ausgewiesener Soziologe, der nicht professionell, aber als Vater von vier Schulkindern involviert ist, zitiert: „Damalige (bezogen auf die Pisa-Studie) wissenschaftliche Gutachten über Modernitätsrückstände der Bildung in Deutschland betonten zumeist die Notwendigkeit, den Lernbegriff aus den autoritären Fesseln eines bloß kognitiven Einübens zu lösen und auf jene Bereiche zu erweitern, in denen lebendige Alltagserfahrungen gemacht werden, die zum herkömmlichen Modell schulischer Bildung querliegen. Es war eine zentrale Forderung dieser ersten Bildungsreform, dass der moderne Lernbegriff drei gleichgewichtige Dimensionen umfassen muß: kognitives, emotionales und soziales Lernen. Nur wenn der emotionale Unterbau von Kindern und Jugendlichen und eine gewisse Kommunikationsdichte gesichert sind, setzen sich ursprüngliches Neugierverhalten und Lernbedürfnisse in die Bereitschaft um, Unterrichtsangebote aufzunehmen und in das eigene Erfahrungslernen zu integrieren. Nur ein in dieser Weise erweiteter Lern-begriff sichert der Schule als gesellschaftlicher Institution die Möglichkeit, mit lebendiger Lebensgestaltung die Zukunft vorzubereiten“ (Oskar Negt, 2002).
Mit Bedauern stellt er abschließend fest: „Man muß immer wieder mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, wie wenig dieser moderne Lernbegriff in die Praxis deutscher Schulen umgesetzt wurde“ (ebenda).

Diese Beurteilung ist für die Institution Schule im Allgemeinen und bis heute zutreffend. Nach wie vor kultiviert sie ein Eigenleben, als gäbe es für ihr Klientel kein Aufwachsen in komplexen gesellschaftlichen Bezügen. Als Folge der Tatsache, dass sie den sich immer mehr beschleunigenden, sozialen wie ökonomischen Umbrüchen ständig Lichtjahre nachhinkt, erzeugt sie kulturelle Schlaglöcher wie ästhetische Jetlags im Verhältnis zwischen ihren Praxen und den Alltagserfahrungen der Kinder und Jugendlichen, welche das Leben in der Schule mit ihrem Leben in den Konsum- und Medienwelten vor und nach Schule nur mehr bruchstückhaft in Einklang bringen. Als bezeichnendes Beispiel reicht hier wohl die aktuelle Diskussion um die längst überfällige mediale Nachrüstung der Schulen (2018!).
Wege
aus der Lernmisere
Alternative Schulmodelle und innovative Bildungsprojekte, die außerhalb und jenseits von Schule entwickelt wurden, führten auf dem Weg einer performativen Ästhetisierung von Lernprozessen, als Gegenmodell zur Schule, zu einer neuen Methodik Kultureller Bildung. Dabei ging es zuförderst um die Öffnung und Erweiterung des Lernraums, dann um die Befreiung der Lerninhalte aus der Dominanz formalen Unterrichts durch einen Lehrer. Nicht mehr Belehrung ist angesagt in Zeiten, in denen Wissensbestände in immer kürzeren Zeitintervallen umgewälzt werden und niemand mehr anzugeben vermag, was für morgen zu lernen ist. Inhalte und Themen liefert die Lebenswelt. Ziel kann nicht mehr sein, spezielles Wissen durch einen Lehrer anzueignen, sondern zu Lernen, wie Wissen selbstbestimmt und selbstorganisiert erworben und angeeignet werden kann.

Aktionsräume
als öffentliche Lernenvironments
Aktionsräume, welche der pädagogische Vision folgen, in ihrer Praxis kognitive, emotionale und soziales Dimensionen zu verknüpfen und in Handlungsimpulse umzusetzen, müssen notwendig als Projekte konzipiert werden, sozusagen als offene Forschungslabore. Arbeitsschritte und Ergebnisziele sind nicht festgelegt, einzig auf ein Thema muß die Lerngruppe sich einigen, damit gemeinsames Handeln und kollaborative Absprachen möglich sind. Neues Lernen braucht den Pädagogen als Arrangeur von Lernangeboten in gesellschaftlichen Öffentlichkeiten, der die dort wirkenden Akteure dabei zur Mitwirkung einbezieht. Wenn irgend möglich, sollte die Lerngruppe nach Alter und Geschlecht gemischt sein, die Hautfarbe spielt sowieso keine Rolle. Die Einschränkung auf ein Thema wird durch eine möglichst breite Auffächerung der Zugänge zu seiner Bearbeitung aufgehoben. Über die Arbeitsschritte entscheiden die Kinder und Jugendlichen selbst, mangelt es dem einen oder anderen an Phantasie, kann er um Anregungen nachsuchen oder sich einer bereits gebildeten Arbeitsgruppe anschließen. Konflikte sind nicht als Problem zu vermeiden, sondern als soziales Lernen zu bearbeiten, nicht alles muss gelöst werden.

Das Projekt:
Kinder, Kirche, Küche
Zur Illustrierung eines solchen Lernraums sei das Projekt KKK in Kurzfassung beschrieben, das mit drei Schulklassen (9./10./11. Jahrgangsstufe ) durchgeführt wurde.
Ausgangslage: 1975 wurde durch die UNO das internationale Jahr der Frau ausgerufen. Seitens der Schuldirektion wurde allen Fachbereichen des Gymnasiums nahegelegt, dieses Thema unterrichtlich aufzugreifen: Die gesellschaftliche Rolle der Frau sollte dabei aus verschiedenen Blickwinkeln „beleuchtet“ werden (Tenor in der Lehrerkonferenz, mit dem Hinweis, dass dieses Thema gerade für die Kunsterzieher, von denen ich einer war, besonders dankbar sei, während es für Mathematik oder Latein weniger relevant wäre?).
Bereits nach den ersten Besprechungen in den drei ausgewählten Klassen wurde deutlich, dass „der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft“ im Klassenzimmer nicht beizukommen sein wird, viel zu disparat und klischeehaft waren die Ansichten, zu abstrakt und unverständlich der Arbeitsauftrag. Die Schüler*innen sahen ihre Mütter in der Regel nur als Hausfrau (KKK) und die Väter zuständig für die ökonomische Absicherung der Familie durch ihre Arbeit.
In Folge dieser Diskussionen erschien es unerlässlich ein Forschungslabor einzurichten, von dem aus sozusagen Sozialforschung in eigener Regie betrieben werden konnte. Ort dafür war eine mittelgroße Stadt im Allgäu mit ihrem erweiterten ländlichen Umgriff. Da dem Gymnasium ein Internat angeschlossen war, kam ein Teil der Schüler auch aus anderen Städten und sogar Bundesländern.
Aufgrund von Besprechungen mit den Fachkollegen war klar geworden, dass ein solches Vorgehen, welches das Überschreiten des Schulrahmens voraussetzte, ein schlüssiges Konzept brauchte. Ein solches wurde meinerseits zur Legitimation gegenüber der Schulverwaltung abgefasst, unabhängig von der Planung der Arbeitsschritte mit den Schülern. Daneben erfolgte bereits mit ihnen die Inszenierung und Ausstattung des Aktionsraums mit Fotokameras, Tonbändern, Computern (überwiegend aus Privatbeständen). Ein Fotolabor gab es an der Schule sowie einen eigenen Kellerraum, der als „Forschungszentrum“ diente, in dem alle Dokumente und Untersuchungsergebnisse (Fotos/ Zeichnungen/ Interviewtexte/ usw.) laufend veröffentlicht und besprochen werden konnten.

Die einzelnen Arbeitsschritte und Forschungseinheiten können im Folgenden nur in kurzer Zusammenfassung geschildert werden, die vielfältigen Gespräche, Absprachen, einzelnen Erlebnisse bei Forschungsexkursionen, Reaktionen der Gesprächspartner und interviewten Personen können hier nicht dargelegt werden, ebenso wenig wie die komplexen Beziehungen der einzelnen Arbeitsgruppen untereinander wie auch zwischen den Schülern und den erwachsenen Forschungsobjekten. Insgesamt ist nur festzuhalten, dass sich eine Kommunikationsdichte innerhalb und im Umfeld der Forschungsaktivitäten ausbildete, die weit über das sonstige Niveau von Unterrichtsstunden hinausging. Ihre Erweiterung war als affektiv-emotionales Erfahrungsmoment der Aktion zwar einkalkuliert, aber die dokumentarische Erfassung nicht mehr sicher zu stellen. Dies vor allem deshalb, weil die organisatorische und administrative Absicherung des Projekts durch eine Person nur deshalb zu leisten war, weil die älteren Schüler*innen in nicht vorhersehbarer Weise große Teile davon übernahmen, auch indem sie ihre Eltern und sonstigen Bekannten aktivierten (Fahrdienste, Besorgungen, Genehmigungen, interne Diskussionen über das Thema, welche die Schüler*innen ebenfalls dokumentierten, usw).
Lernen in eigener Regie:
Selbstorganisierte Forschung
1 Alle Schüler*innen hatten sich verabredet mit möglichst vielen Frauen im Ort in unterschiedlichsten Zusammenhängen und an ihren Arbeitsplätzen Interviews zu machen (mit Tonband oder schriftlich). Dazu wurde gemeinsam als Leitfaden ein Fragenkatalog erarbeitet. Es ging dabei nicht um eine quantitative Erhebung von Daten, sondern um die Sammlung erzählter Lebensbedingungen: Wie verläuft ein Arbeitstag, wer kümmert sich um Haushalt und Kinder, wer sichert das Alltagsleben in der Familie, was passiert mit dem Geld aus dem Zusatzverdienst der Frau, wie verbringen die Frauen den Tag (als Hausfrau/ Mutter/ im Beruf), die Wochenenden, wo den Urlaub, wenn überhaupt… Viele Fragen ergaben sich aus dem Gespräch, spontan und intuitiv, die Befragungen waren nicht limitiert und festgelegt. Anschließend wurden sie transkripiert und möglichst auf einem Blatt zusammengefaßt (besondere Geschichten kamen in einen Anhang).

Gesprächspartner konnte jederfrau werden: meist zunächst die Mütter, deren Freundinnen, die Bäckerin, die Dame an der Kasse im Supermarkt, die Schneiderin, die Apothekerin, usw.
Die Sortierung und Auswertung war dann der schwierigere Teil, weil die Überfülle an Material und die Gewichtung der Aussagen nur aufwändig zu ordnen und systematisieren waren. Aber erfreulicherweise gab es immer genügend Schüler*innen, die diese Aufgabe gerne übernahmen, dafür aber weniger gerne auf Tour gingen.
Im Verlauf der Frauenbefragung kam ein Mädchen mit einem Tonbandinterview zurück, das sie in einer Autowerkstatt mit den dort arbeitenden Männern geführt hatte. Kurzgefasst, deren Kommentare konterkarierten alle Aussagen der weiblichen Befragten: Die Frau gehört ins Haus, zu den Kindern und in die Küche. Sie würden hauptsächlich die ökonomische Basis für die Familie absichern und deshalb wäre es nur erwartbar, dass die Frau für ihr Mittagessen und den Haushalt sorge, usw. Diese Tonbandreportage brach einen Bann und es folgten noch viele weitere Interviews dieser Art in anderen Zusammenhängen, meist vermittelt über die Väter. Überraschend war die große, uneingeschränkte Bereitschaft aller Befragten, den jungen „Forschern“ Rede und Antwort zu stehen und sie in ihrer ungewohnten Rolle ernst zu nehmen (sozusagen im Auftrag der UNO).

2 Befragung/ Interviews in Betrieben in und im Umfeld der Kleinstadt, in denen überwiegend Frauen beschäftigt waren: Großwäschereien für Hotels, für Arbeitskleidung und ähnliches/ Firmen zur Schmuckherstellung/ Textil- und Papierfabrik, u.a.. Neben den Tonbandaufzeichnungen wurden Fotodokumentationen und Zeichnungen erstellt. Eine Interviewrunde erfolgte in einer Traktorenfabrik mit den dortigen Mitarbeitern, wo Frauen nur die Büro- und Putzarbeiten erledigten. In nahezu allen ähnlichen Konstellationen ergaben sich intensive bis heftige Gesprächsverläufe zwischen Frauen und Männern, was die Schüler*innen sehr genau registrierten. Aufschlußreich waren in diesem Rahmen vor allem auch die Interviews mit den Firmenchefs, die aber ausnahmslos dem Projekt aufgeschlossen gegenüber standen. Diese Ausflüge wurden vor allem durch Fahrdienste von Müttern ermöglicht und erfolgten in der Regel nachmittags, vor allem auch, weil bereits nach drei Wochen selbst die Besuche in örtlichen Geschäften während der Schulzeit verboten wurden (Unterricht hat in der Schule stattzufinden). Ein Verbot des gesamten Projekts wurde dadurch umgangen, weil die Schüler*innen es freiwillig an den Nachmittagen weiterführten und in den Unterrichtsstunden die Arbeiten im Fotolabor, an den Zeichnungen und am Layout der Ausstellung erledigt wurden.
3 Fotodokumentation/ Porträtserien von fast allen interviewten Frauen. Diese wurden im Fotolabor entwickelt und vergrößert. Auf der Rückseite wurde allein das jeweilige Alter vermerkt. Anhand dieser Fotos sollte untersucht werden, ob es einen visuell sichtbaren Zusammenhang gibt zwischen Arbeitsbelastung/ Lebensgestaltung und Aussehen der porträtierten Frauen. Die Schüler*innen kannten nahezu von allen ihren Arbeitstag: Morgens zwischen fünf und sechs Uhr aufstehen, Kinder für die Schule vorbereiten, Arbeiten bis nachmittags 14 oder 17 Uhr, Einkaufen, Haushalt erledigen, Kinder versorgen, usw. Hier zeigten sich erhebliche Unterschiede zum Alltag der eigenen Mütter, die meist auch noch eine Haushaltshilfe beschäftigten. Die Versuchsanordnung war einfach: Schüler*innen und Erwachsene, welche die Porträtierten nicht kannten, wurden eingeladen, die Fotos zu betrachten und auf einem Blatt Papier darunter ihre Altersschätzung einzutragen.

Schlussbemerkung
Weitere Arbeitseinheiten bleiben hier unbeschrieben, weil die Ausfächerung des Projektverlaufs und -volumens sicher vorstellbar ist. Das gesamte Material wurde in einer Ausstellung zusammengefasst, mit Kommentaren versehen oder mit Texten und Tabellen aus wissenschaftlichen Büchern zum Thema, welche sich zwischenzeitlich vor allem Mädchen Schüler*innen besorgt und durchgearbeitet hatten. Komplettiert wurden diese mit Texten und Bildern aus Schul- und Bilderbüchern, die, wenig überraschend, zu den eigenen Forschungserfahrungen ein anderes Bild von Frau präsentierten. Die Ausstellung wurde im Schulhaus präsentiert und an einem Vortragsabend Eltern und einem interessierten Publikum vorgestellt.
Die im Verlauf des Projekts erfolgten Auseinandersetzungen mit dem Direktorat (schulaufsichtliche Probleme, pädagogische Fragestellungen) sowie politische Bedenken und Einwendungen von außerhalb werden hier nicht weiter ausgeführt, nur der abschließende Kommentar des Schulleiters sei dem Leser nicht vorenthalten: „Sie (der das Projekt verantwortende Lehrer) sind wie der Wolf im Schafspelz an unsere Schule gekommen!” Warum, wurde nicht erklärt, ebenso wie die Frage weiter diskutiert wurde, wie ein Lehrer die gestellte Aufgabe besser hätte erklären können als die Schüler*innen anhand ihrer Forschungen selbst. Ihren Erfahrungen war nichts mehr hinzuzufügen.
Literatur
Negt, Oskar (2002): Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen, Steidl
Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/Main: Suhrkamp
Grüneisl, Gerd/ Mayrhofer, Hans/Zacharias, Wolfgang (1973): Umwelt als Lernraum. Köln: Dumont
Gamm, Hans-Jochen (1970): Kritische Schule. Eine Streitschrift für die Emanzipation von Lehrern und Schülern. München, List