DER FAHRENDE RAUM | Zirkus Pumpernudl, Clownereien, PA, Holland 1981 -
Zirkus Pumpernudl, Clownereien, PA, Holland 1981

(Englische Übersetzung siehe unten)

Meine früheste Erinnerung an eine Spielaktion geht in etwa so: An einem heißen Sommernachmittag in den siebziger Jahren gehen meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich über die große Wiese am Kleinhesseloher See im Englischen Garten. Mitten auf der Wiese ist mit Gerüstelementen, großen bemalten Brettern und Stoffbahnen eine fantastische, noch nie gesehene … Sache aufgebaut, LKWs stehen da, mit geöffneten Ladeklappen, aus denen allerhand Material herausquillt, drumherum ein Haufen Leute, vor allem Kinder, teilweise mit bunten Farben beschmiert. Sie fahren mit Bierkisten auf Rollbändern und tun noch mehr unerklärliche Dinge, die offensichtlich Spaß machen. Wahrscheinlich bin ich langsamer gegangen, habe neugierig rüber geschaut, meine Mutter hat gefragt, ob ich da hingehen möchte. Sehr wahrscheinlich habe ich trotzig den Kopf geschüttelt, habe mich nicht getraut hinzugehen oder nur zu sagen, dass ich das möchte. Wir spazierten dann weiter und die Wiese und ihre traumhafte Bevölkerung verschwanden in der Ferne.

Ein paar Jahre später: Meine Mutter erzählte, dass sie von der Mutter meines besten Grundschulfreunds gehört habe, dass dieser bei einer Kinderzeitung mitmache. Da könnten Kinder schreiben, was sie wollen. Es gäbe eine Redaktion nur aus Kindern und am Ende würde das tatsächlich gedruckt und verkauft. Man könne da jede Woche hingehen. Sehr neugierig habe ich im Frühjahr 1979 die Ausgabe Nummer 6 der „Karussell-Zeitung“ von vorn bis hinten durchgelesen. Die Karussell-Zeitung war zu der Zeit gerade selbst durch die Presse gegangen, durch die richtige Presse. Ein Stadtrat hatte sich aufgeregt, in was für einer Sprache es den Kindern erlaubt war, dort zu schreiben. Ich belauschte, wie die Mütter sich darüber unterhielten und über den Politiker lustig machten. Ich hatte also gleich von Anfang an das Gefühl, an etwas wirklich Subversivem teilnehmen zu können …

DER FAHRENDE RAUM | Zirkus Pumpernudl, Zirkusvorstellung, PA, Holland 1981 -
Zirkus Pumpernudl, Zirkusvorstellung, PA, Holland 1981

Mit meinem Bruder zusammen habe ich mich dann hingetraut. Wir fuhren mit der Straßenbahn eine gefühlte Ewigkeit quer durch die Stadt in die Müllerstraße zu den Redaktionssitzungen. Dort saßen wir dann zusammen – immer ungefähr zehn Kinder aus allen möglichen Stadtteilen, die meisten im Alter zwischen neun und vierzehn – und haben darüber geredet, was in einer Kinderzeitung vorkommen sollte. Angeheizt wurde unser Schaffensdrang durch zahlreiche bunte Vordrucke, auf denen Themenvorschläge waren: „Büchertips“, „Fernsehkritik“, „Die alltäglichen Abenteuer“ oder „Stadtteil-Vorteil-Nachteil-Urteil“ lauteten die Überschriften der ansonsten leeren Blätter. Wir nahmen die Vordrucke stapelweise mit und fast jeder in der Gruppe entwickelte den Ehrgeiz, einmal für jede Rubrik etwas zu schreiben. In der Ausgabe Nummer 7 vom Sommer 1979 erschienen dann zum ersten Mal Artikel von mir: Ich schrieb über meine Vorstellung der idealen Schule („viele Freunde“), den zurückliegenden Griechenlandurlaub („Quallen gibt’s“) und den Auftritt von „Dschinghis Khan“ beim Europäischen Schlagerwettbewerb („Kotz“).

Im Laufe der nächsten zwei Jahre besuchten wir als Kinderredaktion die „Abendzeitung“ in der Sendlingerstraße, fuhren für ein Redaktionswochenende nach Tirol und diskutierten für einen Gemeinschaftsartikel einmal einen ganzen Tag lang darüber, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Einige der Voraussagen aus dem Jahr 1982 sind – von heute aus betrachtet – durchaus präzise: „Es gibt automatische Staubsauger“, „Das Klima wird heißer“, „Politiker sind wie Kindergartenkinder“, andere Prognosen lagen leicht daneben: „Unsere Zeitung kommt auf Mikrofilm heraus“…

DER FAHRENDE RAUM | Zirkus Pumpernudl, Akrobatik PA, Holland 1981 -
Zirkus Pumpernudl, Akrobatik PA, Holland 1981
DER FAHRENDE RAUM | Zirkus Pumpernudl, Schwerttrick; PA, Holland 1981 -
Zirkus Pumpernudl, Schwerttrick; PA, Holland 1981

Geleitet wurde die Kinderzeitung von Norbert, der auch sonst sehr umtriebig war bei der „PA“, der „Pädagogischen Aktion“, wie sie damals hieß. So ist es denn kaum verwunderlich, dass die Stamm-Belegschaft der ebenfalls von ihm betriebenen Spielaktion „Zirkus Pumpernudl“ über eine gewisse Zeit fast personalidentisch mit der Karussell-Redaktion war. Auch hier gab es immer wieder spannende Erlebnisse, wie einen Auftritt im „ZDF“-Fernsehstudio und eine Fahrt zu einem Kongress nach Rotterdam, wo wir ein paar Tage lang vor dem Kongresszentrum den Kinderzirkus in Aktion vorführten.

Überhaupt habe ich an fast allem teilgenommen, was die „PA“ zu bieten hatte und das war über die Jahre eine ganze Menge: Programme zu Robinson Crusoe im Stadtmuseum und zur Geschichte Münchens im Rathaus, die „Fabrikstadt“ im Trambahndepot in der Dachauerstraße, die Anfänge von „Mini-München“, sommerliche Spielaktionen im Freien zu den großen Theaterfestivals im Luitpoldpark und bei Väterchen Timofei im Olympiapark – gewissermaßen die unkommerziellen Vorläufer des heutigen „Tollwood“. Und schließlich, in meiner Erinnerung sozusagen als Höhepunkt: die „Filmstadt“, zweimal in der Alabamahalle und zuletzt im Arri-Studio. Jedesmal eine Halle gesteckt voll mit Kindern, die an Filmprojekten arbeiteten, Drehbücher schrieben, schauspielten, mit Super-8- und Videokameras filmten, schnitten, vertonten, an Trickfilmen arbeiteten, ein Fernsehstudio betrieben, dort jeden Tag eine TV-Sendung produzierten… Es war atemberaubend.

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DER FAHRENDE RAUM | Zensur für Kinderzeitung, (Zeitdokument), courtesy PA-Pädagogische Aktion / Kultur & Spielraum e.V. -
Zensur für Kinderzeitung, (Zeitdokument), courtesy PA-Pädagogische Aktion / Kultur & Spielraum e.V.

Schon die Orte, an denen die Aktionen stattfanden, waren oft regelrechte Abenteuerspielplätze. Die Alabamahalle in Milbertshofen lag inmitten einer wilden Ruinenlandschaft, zwischen deren Schutthügeln wir Abenteuerfilme drehten. Wir Kinder haben dort eine Ungebundenheit erlebt, die sich heute vermutlich und bedauerlicherweise im Münchner Stadtgebiet nicht mehr so leicht finden lässt. Obwohl ich auch in der Filmstadt bei der dortigen Tageszeitung „Klappe“ mitmachte, trat die „Karussell“-Zeitung allmählich in den Hintergrund. Die Faszination der neuen Medien war zu groß. Ich machte noch ein paar Filmkurse bei der „PA“ mit. Und irgendwann wuchs ich natürlich vom Alter her aus den Spielaktionen raus.

Heutzutage führe ich regelmäßig Besucher bei uns durch das „Bellevue di Monaco“ und am Ende der Führung kommt oft eine bestimmte Frage.

Das „Bellevue di Monaco“ ist ein Sozialprojekt in der Münchner Innenstadt, ein Wohn-und Kulturzentrum für geflüchtete und nichtgeflüchtete Münchner*innen und es hat eine besondere Entstehungsgeschichte. Es ist nämlich nicht durch einen Beschluss der Stadt oder eines großen Sozialhilfeträgers entstanden, sondern aus der Mitte der Bewohnerschaft des Stadtviertels heraus, quasi als Ergebnis einer Bürger*inneninitiative. Wir wollten das Thema „Flucht und Migration“ von den Stadträndern, den Erstaufnahmelagern und Unterkünften in die Mitte der Stadtgesellschaft holen. Ich hatte das Vergnügen, zusammen mit einigen anderen Engagierten von Anfang an dabei zu sein. Von dem Anfang, als wir eigentlich nur gegen die drohende Bebauung eines Bolzplatzes demonstrierten, die Stadt mit einer spaßigen „Goldgrund“- Wohnungsrenovierung auf Leerstände aufmerksam machen wollten und noch garnicht daran dachten, selber etwas mit den Häusern in der Müllerstraße anzufangen. Über den nächsten Anfang, als wir uns überlegten, was die Stadt dort wirklich braucht, fix eine Sozialgenossenschaft gründeten und uns um den Pachtvertrag bei der Stadt bewarben. Bis zu dem Anfang, als die ersten Geflüchteten einzogen, wir ein regelmäßiges Kulturprogramm präsentierten – und ich 2017 plötzlich fest dort arbeitete.

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DER FAHRENDE RAUM | Erste Ausgabe der Kinderzeitung Karussell, München 1977, Herausgeber: PA-Pädagogische Aktion -
Erste Ausgabe der Kinderzeitung Karussell, München 1977, Herausgeber: PA-Pädagogische Aktion

Die Frage, die am Ende einer Führung oft kommt, bezieht sich auf meine persönliche Motivation, beim „Bellevue di Monaco“ mitzuarbeiten: Wie bin ich dazu gekommen und warum mache ich das? Gewöhnlich antworte ich auf das Wie?, dass ich halt so zufällig hineingerutscht bin, durch die Spaßguerilla-Aktion am Anfang und die darauf folgende Kette von Ereignissen, die zu Beginn ja noch garnicht absehbar war. Eigentlich hatte ich einmal Film studiert (woran die „Filmstadt“ sicher nicht unschuldig war!) und schon einige Zeit im Bereich Medien gearbeitet. Plötzlich war Lokalpolitik und das (fast unfreiwillige) Aktivistentum ein Bestandteil meiner täglichen Arbeit geworden.

Doch dem Warum? liegt neben dem Zufall höchstwahrscheinlich auch eine Überzeugung zugrunde, die ich sicher auch und vorallem durch die „PA“-Spielaktionen meiner Kindheit gewonnen habe.

Bei der „Karussellzeitung“, beim „Zirkus Pumpernudl“, in der „Fabrikstadt“ oder der „Filmstadt“ waren wir Kinder souveräne Akteure auf Augenhöhe mit den Erwachsenen. Wir wurden ernstgenommen und uns wurde etwas zugetraut. Wir sahen, dass man zusammen etwas auf die Beine stellen kann. Und wir verstanden, dass man etwas darf, ohne, dass es einem vorher extra erlaubt werden muss.

Es ist die Überzeugung, dass man für seine Umwelt verantwortlich ist, dass man die Freiheit hat, sie zu gestalten. Und dass man nicht machtlos ist, dass – egal wie die Ausgangssituation ist und wie unzureichend einem zunächst die eigenen Mittel erscheinen – man immer etwas machen kann.

Meine beiden Kinder gehen auch schon seit ein paar Jahren zu Spielaktionen wie Mini-München oder in die Seidlvilla. Ich habe sie da gar nicht hingeschickt. Sie sind von selber drauf gekommen. Das Freiheitsangebot, das dort gemacht wird, ist auch heute noch so attraktiv, dass es sich schnell unter den Kindern herumspricht.

Und ich bin froh, dass auch sie erfahren können: Man kann immer etwas machen.

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DER FAHRENDE RAUM | Karussellzeitung, Redaktion, 1980 und Karussellzeitung bei der AZ 1980. -
Karussellzeitung, Redaktion, 1980 und Karussellzeitung bei der AZ 1980.
DER FAHRENDE RAUM | Filmstills aus
Filmstills aus "Fabrikstadt", der erste Super8-Tonfilm, courtesy PA-Pädagogische Aktion / Kultur & Spielraum e.V.
DER FAHRENDE RAUM | Fotos und courtesy: Grisi Ganzer, Privatarchiv. -
Fotos und courtesy: Grisi Ganzer, Privatarchiv.