(English translation below)

Oskar Negts Text „Kindheit und Kinder-Öffentlichkeit“ (1983) kann als Plädoyer für ein Verständnis von Öffentlichem Raum verstanden werden, das sich gegen ein Gesellschaftsbild positioniert, in dem Kindheit und Jugendalter sentimental verklärt und glorifiziert werden. Im Zuge dessen, so Negt, werden Altern und Tod ausgeblendet. Gleichzeitig werden die Minder-Jährigen selbst in einen Schonraum gepfercht, in dem sie – außer zu pädagogisch handelnden Erwachsenen – nur zu Gleichaltrigen Kontakt haben. Die Kinder-Öffentlichkeit zeichnet der Autor im Gegensatz dazu als einen explizit intergenerationellen Raum. Sofern sie keine pädagogischen Hintergedanken haben, die Kinder und Jugendliche davon abhalten könnten, Ausdrucksformen für ihre Eigeninteressen zu entwickeln, sind Erwachsene dort nicht nur willkommene Gäste, sondern konstitutive Akteur*innen. Negt fordert von ihnen „entschiedene Parteinahme für das Kind“ (Negt 1989, S. 21) und, wie ich ergänzen möchte, auch für Jugendliche. Deren „Erfahrungen in und mit der Erwachsenenwelt [würden] ja häufig darauf hinauslaufen, dass [sie] im Konflikt allemal unrecht“ (ebenda, S. 22) hätten. Wie kann diese entschiedene Parteinahme aussehen, wo fängt sie an?

Aktuell und im großen Maßstab wird sich das angesichts der grassierenden Politiken der Verleugnung herauskristallisieren, die außer Standes sind, den Klimawandel als wirksame Kraft zu begreifen. Zuletzt richteten sich daher weite Teile der medialen Aufmerksamkeit auf die Fridays-For-Future-Bewegung. Davon allein lässt sich vielleicht noch nicht auf das unmittelbar bevorstehende Eintreten einer erweiterten Kinder- und Jugend-Öffentlichkeit schließen. Aber es hat verdeutlicht, welch enorme Erwartungen auf jungen Menschen lasten, Zusammenleben neu zu denken und Lösungsansätze für Probleme von globalen Ausmaßen zu finden. Gleichzeitig werden ihre Widerstandsformen zu Projektionsflächen reaktionärer Würgereize und neoliberaler Heucheleien.

Aber auch auf den konkreteren Ebenen der mehr oder weniger alltäglichen Zusammenhänge gilt es, Formen entschiedener Parteinahme für Kinder und Jugendliche zu entwickeln, auszutesten und anzupassen. Im Aktionsraum „Magic Channel“ haben wir Begriffe und Namen von Dingen und Ereignissen, die uns umgeben, gesammelt und gelayert. Daraus entstanden Geschichten über Delfin-Armut, Klima-Shishas und den Ursprung des Universums in der Pizza, mit denen wir dann auf der Bühne, im Green-Screen-Studio, in der Druckwerkstatt und der Redaktion weiterarbeiteten.

DER FAHRENDE RAUM | Unused Footage (Hauseingang), Der Fahrende Raum, München 2019 -
Unused Footage (Hauseingang), Der Fahrende Raum, München 2019

Es kam auch vor, dass die Teilnehmer*innen die Ressourcen des Fahrenden Raums zu Zwecken der Self-Promotion oder zur Umsetzung persönlicher Spielfilm- und Romanprojekte nutzten.

So wie A., die sich regelmäßig mit dem Tablet aufnahm. In einem ihrer manchmal 45-minütigen Monologe wurde sie zur Rapperin, die nach mehreren Kontroversen ihre Fan-Basis ein für alle Mal verprellt hatte und nun im Interview zu ihrem neuen Musikvideo darum bittet, man möge ihr noch eine letzte Chance geben. Ein anderes Mal nahm sie ein Schminktutorial auf, das erst ein Ende fand, als ihr Gesicht einheitlich blau angemalt war.

Einmal kleben A. und ich das Tablet an ihrem Fahrradlenker fest. Sie fährt los und kommentiert dabei lautstark die Orte, an denen sie vorbeikommt: „Da ist der Friedhof. Ich hasse Tote.“ Sie filmt in die Hauseingänge, die wegen der Hitze offen stehen, und in die Gesichter der Leute, die auf der Terrasse eines Cafés Bier trinken. Die Glasaufzüge am U-Bahnhof nutzt sie für Panorama-Aufnahmen. Um eine Aufnahme vom Interieur einer Wohnung zu bekommen, hebt A. ihr Fahrrad zur Fensterbank hoch.

Ich begleite sie auf ihrem dokumentarischen Streifzug durchs Viertel, was für mich zu einer peinlichen Angelegenheit wird. Entschiedene Parteinahme kann nicht bedeuten, sich kritiklos jedem Bedürfnis eines jüngeren Gegenübers zu fügen und zu dessen Erfüllung beitragen zu müssen. Das, was ich an der Situation aber als so unangenehm empfinde, sind die verinnerlichten Vorwürfe pädagogischen Versagens, die ich in die Blicke der (erwachsenen) Passant*innen projiziere: A.s Experimente mit dem improvisierten Kamera-Dolly stellen mich als verantwortliche Autoritätsperson auf die Probe. „Kinder-Öffentlichkeit ist Ausdruck von Herrschaft und Protest dagegen in einem“, schlussfolgert Negt (ebenda, S. 30). Und so kann ich es dann vielleicht bedauern, dass das Material nicht zu gebrauchen sein könnte, weil die Aufnahmen hoffnungslos verwackelt sind oder die Fahrtgeräusche A.s Kommentare übertönen. So, wie es mich schmerzt, dass der Monolog der Rapperin am Tag nach seinem Entstehen wieder gelöscht wird, weil A. ihre eigene Stimme nicht erträgt. Es hilft alles nichts: Die Entscheidung sich zu entziehen, ist auch eine Form von Protest, in der sich Kinder- und Jugend-Öffentlichkeit verwirklicht.

Vgl.: Negt, Oskar (1989): Kindheit und Kinder-Öffentlichkeit. In: Grüneisl, G./ Zacharias, W. (Hrsg.): Die Kinderstadt. Reinbek bei Hamburg. Erstmals veröffentlicht 1983.

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Unused Footage (Interieur), Der Fahrende Raum, München 2019