(English translation below)
„Im sogenannten Unmöglichen wird die Wirklichkeit ja sichtbar, ihre Begrenzungen, ihre Zwänge“ (Wolfram Lotz, 2014)
Das Gras ist gewachsen seit dem letzten Mal. Die Sonne scheint auf die Hummelwiese. Es ist warm und du sitzt im Schatten, neben einem alten Baum auf einer Bierbank. Vor dir ein Blatt Papier, auf das du eine Geschichte schreibst. Eine neue Geschichte. Du erfindest sie, es gab sie noch nicht, weder in einem Buch noch in deinem Kopf. Immer wieder siehst du auf von deinem Blatt, dann schweift dein Blick zu dem großen weißen Zelt, zu den Regalen darin mit den bunten Materialien und Kostümen, zu den anderen Kindern auf der Wiese, die dort gerade Pappen und Banner bemalen, aber du siehst sie nicht richtig. Richtig siehst du nur die Geschichte, die als toter Text vor dir liegt. Die Geschichte, die, weil du willst, dass sie lebt, lebendig wird und die mit jedem Satz, den du hinschreibst, mehr Gestalt annimmt. Hin und wieder fragst du das Kind, das neben dir sitzt, oder mich, wie es weitergehen könnte, und du bekommst mehrere Vorschläge – aber da hast du schon „ah, ich weiß“ gesagt und machst es ganz anders.
Als du zu mir gekommen bist und gefragt hast: „Was kann man hier machen?“, sagte ich: „Eine Geschichte erfinden über was ganz Neues“. Ich fragte, was dich interessiere, und dann, wer die Hauptfigur sein könnte. Die Figuren sind das, was mich in Geschichten am meisten interessiert, egal ob es Menschen, Tiere, Monster, Götter, Spielzeuge oder andere Dinge sind. Ich nehme an, dir geht es ähnlich. Zumindest hast du dir gleich, als du deine Hauptfigur hattest – vielleicht ein Vampirhörnchen mit Blutallergie, einen faulen Superhelden oder einen sprechenden Spiegel – ein Blatt Papier genommen und losgeschrieben. Am Anfang hattest du noch Fragen, aber je stärker du gemerkt hast, dass es darauf ankommt, dass du mit den Figuren und Wörtern und der „Wirklichkeit“ spielen kannst (du bist ja schließlich nicht in der Schule), desto weniger fragst du und desto mehr tust du, was du willst. Wie ein Tagtraum wird dein Text, aber wilder; wie ein Spiel wird er, aber freier. Physik, Logik, Gesetze, Machtverhältnisse – all das gilt hier nicht. Du schreibst es hin und es ist da. Du erkennst schnell, wie viel Macht du dadurch hast. Und zwar nicht nur gegenüber deinen Figuren und dem Geschehen in deiner Geschichte, sondern auch gegenüber der Wirklichkeit und den Menschen, die du kennst, und später deinen Leser*innen, indem du sie einfach in deine Geschichte einverleibst und ihnen Sätze und Handlungen unterjubelst, die sie nie tun würden. Noch liest du die Geschichte allein, noch ist das Schreiben dein privater Rückzugsraum, ein dir bleibender Traum. Noch bist du die Mächtige.

Das ändert sich schlagartig, sobald du jemandem deine Geschichte vorliest oder zum Lesen gibst. Wenn du da stehst oder dabei bist, bekommst du sofort eine Rückmeldung, vor allem von Erwachsenen. Sie meinen, sie müssten kommentieren, sie müssten dir „helfen“. Aber wolltest du Hilfe von ihnen? Mit einer Rückmeldung, die über „toll“ oder „schön“ hinausgeht und mehr als eine Sache kritisiert, helfen sie dir nur, wenn du schon viele Texte geschrieben hast. Ansonsten nehmen sie dir höchstwahrscheinlich die Lust, weiterzumachen und noch einen Text zu schreiben. Beim Malen sind sie doch auch nie so kritisch mit dir! Vielleicht solltest du deine Geschichte nur Kindern zeigen? Vielleicht sind die Erwachsenen doch nur Schüler*innen der Schule, in die sie gegangen sind – eine, in der alles Gesprochene und Geschriebene sofort kritisiert werden musste? Nein, auch die Kinder sagen dir was – nachdem sie dir gespannt gelauscht haben, gelacht, kommentiert und dann geklatscht haben – aber sie sind dabei vorsichtiger: Sie sagen dir das, was sie nicht verstehen, und nicht das, was sie falsch finden. Das mit dem „richtig“ und „falsch“ aus der Schule hast selbst du so in dir drin, dass du gleich am Anfang gefragt hast, ob das „gut so“ ist, was du tust. Was weiß denn ich? Aber sicher ist es gut! Wenn du es so tun willst, ist es gut. Es ist dein persönlicher Ausdruck, du musst kein Schema erfüllen, um eine Beurteilung deiner „Fähigkeiten“ möglich zu machen. Und wenn du mir deinen Text zeigst, weil du meine Meinung dazu willst, versuche ich dir Fragen zu stellen – so wie die anderen Kinder: Vielleicht fehlt noch irgendwo ein Satz, den du vergessen hast aufzuschreiben, weil die Geschichte in deinem Kopf so viel Fahrt aufgenommen hat; vielleicht verstehe ich ein erfundenes Wort nicht ganz; vielleicht frage ich dich, was passieren würde, wenn die Figur dies oder das anders tun würde; ziemlich sicher finde ich den Text fantastisch, weil er dir entspricht, weil du ihn gemacht hast, weil du eine GANZE Geschichte geschrieben hast.
In meiner Schulzeit haben mir Lehrer*innen öfter gesagt, dass meine Texte nicht gut seien: „zu gewalttätig“, „nicht spannend genug“, „zu genau beschrieben“, „zu ungenau beschrieben“, „ohne Erzählmaus“ (die Erzählmaus: der Spannungsbogen in Mausform – ein Schema, das die Kinder aus dem Schreibquartier „die Maus, sie alle zu knechten“ nennen). Jedesmal, wenn ich so kritisiert wurde oder eine schlechte Note für einen Text bekam, ist mir das Schreiben auch in der Freizeit eine Weile vergangen, obwohl die Ideen da waren. In der Schule unterwarf ich mich, mit der Angst vor schlechten Noten im Genick, dem Zwang, das Schema zu erfüllen, das ich bezeichnenderweise bei egal welcher Textform kurz nach der Prüfung vergaß. In der Schule wurde das Schreiben von Geschichten und Aufsätzen zur Qual. Trotz allem hatte ich Glück: Ich fand Texte und Sprache spannend und konnte es nicht lassen, immer wieder selbst welche zu schreiben. Solltest du so „zerstörend“ kritisiert werden, wünsche ich dir solches Glück: Ich weiß, es ist nicht leicht, aus der Abneigung gegen das Schreiben in der Schule herauszukommen. Ansonsten hoffe ich, dass du erst kritisiert wirst, wenn du dafür bereit bist.

Kritik – das habe ich im Studium am „Deutschen Literaturinstitut“ gelernt – kann auch bereichern. Diese Kritik setzte sich halbwegs fair mit meinem Text auseinander, mit dem, was man aus ihm noch rausholen konnte, und ich lernte auch, andere behutsam zu kritisieren und dabei meinen eigenen künstlerischen Standpunkt zu finden. Da war ich aber schon erwachsen. Auch da wurde das Schreiben zur Qual; auch da war es wichtig, sich über die Kritik hinwegzusetzen und zu etwas Neuem zu kommen. Die Kritik steckte mir sowieso zwischen den Gehirnwindungen, sie steckte mir im ganzen Körper als Angst, den anderen nicht gerecht zu werden. Auch wenn es viele Meinungen und viele Kritiken zu einem einzigen Text gibt: Das Publikum ist irgendwann nicht mehr wegzudenken.
Das Publikum als vielköpfiges Monster stellt schnell die Frage „Was darf man?“, und dir stellt es die Frage „Stimmt das so?“ Du fühlst dich zurückgewiesen, obwohl diese Frage ja nichts mit dir zu tun hat. Sprache ist nicht nur zum Erfinden, Erzählen und Berichten wichtig, sondern auch zum Zusammenleben. Und dafür gibt es immer irgendwelche Regeln, Gesetze und Moralvorstellungen. Auf die Frage „Was darf man?“ folgt die Frage „Was darf man nicht?“. Und damit wären wir bei „Zensur“, was für mich eine Weiterentwicklung der Kritik bedeutet, nämlich die gewaltsame Durchsetzung der Kritik: Ein Text wird unterdrückt oder geändert, weil er nicht den Vorstellungen von Mächtigeren entspricht (zum Beispiel von Erwachsenen), unter dem Vorwand, dass andere dadurch moralisch „beeinflusst“ und „verseucht“ werden könnten.
Während du schreibst, dort unter deinem Baum, zensierst du dich auch ständig, wählst ständig Gedanken aus und unterdrückst andere. Vielleicht lässt sich Kunst gar nicht anders machen als durch Auswahl? Wichtig ist hier, dass es deine eigene Auswahl ist, dass es deine eigenen Entscheidungen sind, die zu diesem oder jenem Resultat führen. Denn nur du kannst nachvollziehen, wieso du dies oder jenes so gemacht hast. Sobald dir andere dreinreden, kannst du über deine Geschichte die Kontrolle verlieren – und vor allem dein Selbstvertrauen. Das ist gefährlich. Deswegen wählst du jetzt nicht nur nach den Urteilen und Mustern der Anderen aus (die sind sowieso in dir drin), sondern: Die Welt deines Texts kommt aus dir, aus dem, wie du die Wirklichkeit erfährst und wie du sie gerne hättest – in deinem Spiel. Gegen das Allgemeine der Anderen, gegen dieses altkluge Beharren auf dem, was „gilt“, setzt du in deiner Literatur das Besondere, deine eigenen Geschichten und Figuren, deine eigenen Sätze, deine eigene Stimme. Je mehr du selbst erfährst, was „in dir steckt“, je mehr du sie herausziehen kannst, diese ganzen Figuren, Tiere, Welten, Erfindungen, ohne dass sie in den Attacken von Kritik und Zensur niedergemetzelt und unterdrückt werden, desto größer wird mit jedem Text und jedem Einfall dein Selbstvertrauen für den nächsten Text. Du versetzt dich hinein in die Figuren, du versuchst, sie zu verstehen, du fängst an, mehr zu lesen. Du entwickelst dich, ganz von selbst.

Das ist meine Erfahrung bei jeder Art von Schreibwerkstatt und auch meine eigene Erfahrung bei meiner literarischen Entwicklung und Arbeit: Mit jedem fertigen Text wird die Lust größer, irgendwann wieder einen zu schreiben; mit jedem fertigen Text weicht die Angst vor dem Scheitern; mit jedem fertigen Text entwickelst du deine sprachlichen und erzählerischen Fähigkeiten weiter. Und mit vielen fertigen Texten über Erfundenes und Unmögliches verstehst du vielleicht, dass Sprache Wirklichkeit schafft (wie in der Geschichte eines Kindes, vielleicht deiner, über Götter, die nichts anderes tun als erzählen, und alles, was sie erzählen, geschieht genau so, wie sie es erzählen: mit ihrer Erzählung schaffen sie erst die Wirklichkeit). Und indem du die Macht der Sprache und die Macht des Erzählens verstehst, verstehst du vielleicht, dass Menschen ständig durch Sprache und Erzählungen handeln und die Welt verändern – durch ihre Lügen, Vermutungen, Beweise, Gesetze, Witze, Kritik, Beschwerden und Gespräche – und dass du, du unter dem Baum auf der Hummelwiese, einer dieser Menschen bist.
Abbildungen: Der Fahrende Raum, München 2019
Lotz, Wolfram (2014):
Das unmögliche Theater ist möglich.
Im Gespräch mit Friederike Emmerling.
In: 114 – das literarische Online-Magazin
des S. Fischer-Verlags,
www.hundertvierzehn.de.