DER FAHRENDE RAUM | Außenwandbild „Grid II – Spielskulpturen zwischen eitlen Formen und Sperrbereichen des Öffentlichen“, Maximiliane Baumgartner, 
	(Lack auf Alu Dibond), Teil der Ausstellung
Außenwandbild „Grid II – Spielskulpturen zwischen eitlen Formen und Sperrbereichen des Öffentlichen“, Maximiliane Baumgartner, (Lack auf Alu Dibond), Teil der Ausstellung "Viele Vampire sind Vögel", Stadtgalerie Bern, 2019.

(English translation below)

Als ich zum ersten Mal auf Bilder von Spielplätzen in Form dichter Beton-Environments stieß – welche in unmittelbarem Bezug zu ihrer städtebaulichen Nachbarschaft, u.a. Wohnsilos, standen – war ich fasziniert von ihrer Material- und Formensprache: einer nahezu ästhetisch-abstrahierenden Mimikry ihrer Umwelt. Beeindruckt war ich gleichsam von dem Mut, den Körpern der hauptadressierten Nutzer*innen mit der konzeptuellen Härte von Beton zu begegnen. Dazu seien hier beispielsweise die Betonschlaufe von Ralph Bänziger in der Siedlung Grünau in der Schweiz um 1977 oder die Spielplätze des niederländischen Architekten Aldo van Eyck zu nennen. Von 1947–1978 entwarf van Eyck ca. 700 Spielplätze für das Stadtplanungsamt Amsterdam. Die Spielplätze erstreckten sich als frei zugängliche Gemeinschaftsanlagen über die gesamte Stadt Amsterdams. Sie wirken kaum wie zugerichtete Schonräume für Kinder, angelegt von Erwachsenen, sondern sind Teil des Realraums Stadt. Die Anlagen re-kontextualisieren das sie umgebende architektonische Formenrepertoire und nehmen die dabei entstehende Komplexität wissentlich in Kauf. Der Verzicht auf eingrenzende Zäune um die Spielanlagen sowie das Herausstellen eines fließenden Übergangs zum urbanen baulichen Umraum kann als solcher Versuch gedeutet werden. All diese Faktoren sind in dem hoch-kommodifizierten Stadtraum westeuropäischer Städte heutzutage kaum mehr durchzusetzen.

Das pädagogische Potential von abstrahierenden Formensprachen, welche auf den städtischen Realraum Bezug nehmen, kommt auch bei den Schuhschachtel-artigen Kuben der „Roten Stadt“ zum Tragen: bei dieser ist nicht Beton das vorherrschende Material, sondern roter Ziegelstein, der dem Spielenvironment seinen 
Namen verlieh. Als Teil eines baulichen Spielkonzepts der „Pädagogischen Aktion“ (die als Kunstpädagogen-Gruppe in die Landschaftsgestaltung des Olympiage-ländes von 1972 eingebunden wurde), nimmt auch die „Rote Stadt“ in abstrahierter Form Bezug auf die angrenzenden Wohn-Plattenbauten des sogenannten Olympiadorfs. Wobei Entwurfscollagen nahelegen, dass auch die Formensprache von umgedrehten, stapelbaren Bierkisten (diese wurden gerne in den Aktionen als Spielmaterial aus dem Alltags- und Sozialkontext Münchens benutzt) ebenfalls die Kuben der Roten Stadt inspiriert haben dürften.

Bis heute steht diese Stadt, mittlerweile eher als Relikt, übertüncht von Graffitis, von Parcour-Läufer*innen als Hindernisparcour genutzt, in einem Teil des Olympia-parks in München. Bei der Konzeption des Fahrenden Raum bildete diese Architektur, die thematisch in wechselnden Aktionen bespielbar war, einen wichtigen Inspirationspunkt für mich.

Gemessen an den heutigen hochstandardisierten Maßstäben des (west-)europäischen Raums, die allzu schnell dazu führen, Variablen wie „Kinder“, „Objekt“, „Spiel“ und „Öffentlichen Raum“ in vorauseilendem Gehorsam mit Sicherheitsauflagen kurzzuschließen, wirkt es wie eine gleichsam verwegene und absurde Form, Kinder in baulich offenen Spiellandschaften mit Beton zu konfrontieren. Nennenswert hierbei sind auch die aus größtenteils Schrottteilen bestehenden sogenannten Gerümpel-Spielplätze (1), auf denen Kinder den ausrangierten Schrott der Alltagswelt performativ in ihrem Spiel aktivieren und neu arrangieren.

Aus pädagogischer Sicht deuten die Überbleibsel dieser Spielplätze auf einen gewagt komplexen Umgang mit Materialsprache hin, abstrakte Formen sinn- und spielstiftend einzusetzen sowie auf Spielarrangements aus realen Zusammenhängen zu bestehen.

DER FAHRENDE RAUM | Ausschnitt aus dem Ankündigungsposter zur Zeitungsaktion auf dem Spielplatz Längmuur und dem Spielplatz am Schützenweg Bern als Teil
der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern, 2019. -
Ausschnitt aus dem Ankündigungsposter zur Zeitungsaktion auf dem Spielplatz Längmuur und dem Spielplatz am Schützenweg Bern als Teil der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern, 2019.

Diese Beobachtung möchte ich im Folgenden mit dem sogenannten Beutelsbacher Konsens in Verbindung bringen und anhand der eigenen künstlerischen Praxis, welche die kritische Kunstvermittlung und Päd-agogik (3) als emanzipatorischen Handlungsrahmen begreift, erörtern. Die Übergänge von ästhetisch-künstlerischen Handlungsformen (innerhalb kunstpädagogischer Ansätze) hin zur politischen Bildung sind im Konzept des inszenierten Lernsettings fließend, dahingehend ist es interessant, die Werkzeuge beider Felder gegenseitig kritisch zu befragen.

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb), merkte 2018 in einem Podiumsgespräch (4) an, dass die Institutionen auch selber ihre „Praktiken auf den Prüfstand stellen“ müssten: „Es gibt aus der politischen Bildung in den 70er-Jahren eine Art Glaubensbekenntnis: den sogenannten Beutelsbacher Konsens, wo die Hauptspielregeln definiert sind, wie staatliche politische Bildung eben stattfinden soll … Dann, was ich sehr interessant finde: das Überwältigungsverbot. Das ist so ein bisschen eine Reaktion auf Agitprop aus der DDR gewesen […] Du darfst sozusagen deinen Lernenden als politischer Bildner nicht überreden oder überwältigen, sondern du musst ihm die tools bereitstellen, sich selbst eine politische Meinung zurecht zu legen. Und das diskutieren wir sehr intensiv in der Bundeszentrale, weil das damals dem Rationalitätsprinzip unterworfen war. Das heißt, es galten sozusagen nur rational vorgetragene Argumente. Aber der Faktor Emotionalität, mit dem wir zunehmend in der politischen Bildung zu tun bekommen, spielte da überhaupt keine Rolle. Und ich glaube, man kann heute in den Lern-Settings das Überwältigungsverbot nicht mehr anwenden, ohne diese Dimension der Affekte zu reflektieren …“ (5)

Neben dem Überwältigungsverbot gilt im Sinne des Beutelsbacher Konsenses Neutralität als ein wichtiger Aspekt bei der Gestaltung von Lernsettings. Ursprünglich auch als Reaktion auf die politische Gleichschaltung des nationalsozialistischen Regimes gedacht, berufen sich momentan vermehrt rechtspopulistische Kräfte auf den Beutelsbacher Konsens und fordern politische Neutralität von Lehrkräften ein. Diese Neutralität endet aber dort, wo der Boden der Verfassung verlassen wird und menschenverachtende und rassistische Ansätze propagiert werden, wie Nana Lüth dies beleuchtet hat. (6)

Nora Sternfeld schreibt zur Frage der Neutralität innerhalb der Pädagogik: „Um Pädagogik als kritische Praxis zu beleuchten, stellt sich zunächst die Frage, was diese von einer solchen, die Macht erhaltend agiert, unterscheiden kann: Taktisch innerhalb und strategisch außerhalb des Systems verortet der brasilianische Pädagoge, Befreiungstheologe und Erziehungstheoretiker Paulo Freire seinen Ansatz. Er geht davon aus, dass es keine »neutrale« Erziehung gibt: Erziehung sei immer politisch – entweder im Sinn einer Konsolidierung der bestehenden Verhältnisse oder im Hinblick auf ihre Veränderung. Peter Mayo, der über Gramsci und Freire schreibt, fasst dies in der einfachen Frage, der sich wohl jede politische Pädagogik stellen muss, zusammen: »Auf welcher Seite stehen wir, wenn wir erziehen und unterrichten, wenn wir handeln?« (7)

DER FAHRENDE RAUM |  -
DER FAHRENDE RAUM | Einzelseiten aus der Spili-Zeitung, entstanden im Rahmen der Zeitungsaktion mit Kindern und Jugendlichen auf dem Gerümpel-Spielplatz
Längmurr, als Teil der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern, 2019. -
Einzelseiten aus der Spili-Zeitung, entstanden im Rahmen der Zeitungsaktion mit Kindern und Jugendlichen auf dem Gerümpel-Spielplatz Längmurr, als Teil der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern, 2019.

Daran anknüpfend stellen sich mir hier aus künstlerischer Perspektive folgende Fragen:

Welche Auswirkungen hat eine strikte (technokratische) Auslegung des Beutelsbacher Konsenses auf die ästhetische und materialsprachliche Ausformulierung von Lern- und Spielsettings im öffentlich-städtischen Raum (8) gehabt?

Wie können künstlerisch-ästhetische Handlungsformen im Sinne einer kritischen Perspektivierung von Pädagogik bei der Gestaltung öffentlicher Spielstrukturen einbezogen werden? Inwieweit können diese Spielstrukturen (wenn sie als informelle Lern- und Spielsettings aufgefasst werden) zu erweiterten Formen der Kinderöffentlichkeit sowie zu einer vermehrten Sichtbarkeit derselben beitragen?

Wie kann eine komplexe Materialsprache in Lern- und Spielsettings eingebunden werden, die Teilhabe ermöglicht und das situierte Wissen (9) der Partizipient*innen mitdenkt?

Führte die technokratische Auslegung des Beutelsbacher Konsenses (das Rationale als bestimmende Kategorie in Lernsettings zu implementieren) in Teilen auch dazu, „Sicherheit“ über alle ästhetischen und pädagogischen Entscheidungen zu stellen?

Vielmehr gilt es grundsätzlich, die politisch-ästhetische Dimension des Sicherheitsbegriffs in pädagogischen Lern- und Spielsettings kritisch zu hinterfragen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Sicherheit in ihrer autoritären Auslegung als gesellschaftlicher Grundwert vermehrt von konservativen bis rechtspopulistischen Lagern für sich reklamiert wird, wenn es darum geht, die sogenannte „Festung Europa“ abzusichern und/oder (damit) geflüchtete, migrantische oder wohnungslose Menschen zu diffamieren und auszugrenzen. (10) Durch den Aufschwung rechtspopulistischer Kräfte hat der Begriff gerade auch innerhalb der Argumentationslinien der politischen Mitte eine enorme Verbreitung erfahren bzw. wird hier wieder an autoritäre Strömungen der jungen BRD angeschlossen. Dementsprechend muss erwähnt werden, wie beispiellos das oft zitierte innere Sicherheitskonzept wiederum in dem Schutz von migrantischem und jüdischem Leben in Deutschland mit der Vielzahl jüngster rechtsextremer, rassistischer Anschläge versagt hat. Es stellt sich aus antirassistischer, diskriminierungskritischer Perspektive die Frage, inwiefern sich diese Begrifflichkeit in der Gestaltung öffentlicher Räume für Kinder und Jugendliche niederschlägt. Sicherheit muss daher in ihrer politischen Konnotation als ein Privileg reflektiert werden, das Ein- und Ausschlüsse produziert. Risiko und Komplexität, bildnerisch aufgefasst, bilden dementsprechend pädagogische Variablen, die, wenn sie gesamtgesellschaftlich getragen werden, einen hohen öffentlichen Bildungswert besitzen können. Eine zeitgenössische Reflexion des sogenannten „Autoritären Charakters” (nach der Frankfurter Schule) (11) könnte für eine weitere Betrachtung, wie sich das Narrativ „Sicherheit“ auf öffentliche Lern- und Spielsettings ausgewirkt hat, sicher hilfreich sein. (12)

DER FAHRENDE RAUM | Einzelseiten aus der Spili-Zeitung, entstanden im Rahmen der Zeitungsaktion mit Kindern und Jugendlichen auf dem Gerümpel-Spielplatz am 
	Schützenweg, als Teil der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern,2019. -
Einzelseiten aus der Spili-Zeitung, entstanden im Rahmen der Zeitungsaktion mit Kindern und Jugendlichen auf dem Gerümpel-Spielplatz am Schützenweg, als Teil der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern,2019.

Das situierte Wissen von Kindern und
Jugendlichen um (ihre) Spielstrukturen als 

Teil eines informellen urbanen Wissens-
zusammenhangs. Darlegung(en) eigener
Praxiserfahrungen und Versuche

Die Frage, inwiefern Materialität eine politisch-ästhetische Wirkungskraft in öffentlich-städtischen Gefügen entfalten und Teil einer eigenen urbanen Geschichte sein kann, hat mich auch bei der Recherche zur Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“ interessiert.

In Laufnähe zur Stadtgalerie Bern inmitten der Stadt befinden sich nach wie vor zwei Spielplätze, die in der Tradition von sogenannten Gerümpel-Spielplätzen stehen und seit den 1970ern betrieben werden. Ihre Spielobjekte haben oftmals ihren Ursprung in der Gebrauchswelt vergangener Dekaden der Erwachsenen. Diese Orte stehen für pädagogische Konzepte, die durch Sicherheitsklauseln und Standardisierungen bedroht und in Deutschland kaum mehr zu finden sind. Sie betonen das eigenverantwortliche Spiel der Kinder und betrachten das Aushandeln von Risiko in konstruktiver Weise als Lernprozess, in dem sie auf den Einsatz von Materialien und Objekten des Alltags bestehen. Diese Spielplätze als Allmendestrukturen innerhalb von Stadtlandschaften sind umso mehr auf das kollektive Wissen um gemeinschaftliche Strukturen ihrer Nutzer*innen angewiesen: Folglich wird situiertes Wissen und Erfahrungshorizonte von Generation zu Generation und Stadtbewohner*in zu Stadtbewohner*in informell weitergegeben. Die Kinder sind hierbei Träger*innen von eigenem Wissen um ihren Spielplatz und die Spielobjekte sowie des Verhältnisses zum umgebenden Stadtviertel. Als Teil meiner Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“ in der Stadtgalerie Bern besuchte ich mit dem Galerie-Team Luca Beeler, Anna Marcus und Andrea Bracher für vier Tage die beiden Gerümpel-Spielplätze. Der in die Ausstellung integrierte Aktionswagen diente als mobiler Schaffensraum vor Ort. Mit einer im Wagen eingerichteten Zeitungswerkstatt wurde gemeinsam mit den vor Ort angetroffenen Kindern eine Bestandsliste der Spielobjekte (die dort zum Teil seit über 40 Jahren stehen) erstellt. Der Fokus dieser Liste lag auf der Perspektive der Kinder. Die Liste entstand aus Zeichnungen, Collagen und Fotos und erweiterte sich fortlaufend mit eigenen Geschichten und Inszenierungen der Kinder, die wiederum dann zur Zeitung gebunden wurden. Die Zeitung bildete den Versuch einer „Momentaufnahme der Spielobjekte 2019“ der Berner Gerümpel-Spielplätze aus Perspektive der Kinder. Ausgangsidee für die Konstruktion des Wagens war seine Funktion als mobile Struktur, die sich an vorhandene Spielstrukturen verschiedener Jahrzehnte andocken lässt oder auch als mobile Zine- und Zeitungswerkstatt zum Vagabundieren, künstlerischen situativen Forschen und Publizieren nützlich ist. Eine Wagenstruktur, die sich im Austausch mit Kindern und Jugendlichen mit der jeweiligen Umgebung auseinandersetzen kann. In seiner Konstruktion adaptiert der Wagen die Formensprache der Architektur des Fahrenden Raums. Hierbei verhält er sich ähnlich eines Spielobjekts auf einem Spielplatz. Die Kinder entscheiden selbst, ob sie ihm Aufmerksamkeit schenken oder nicht.

DER FAHRENDE RAUM | „Viele Vampire sind Vögel
„Viele Vampire sind Vögel" (Spielwagen und Skulptur), Zeitungsaktion mit Kindern und Jugendlichen auf dem Gerümpel-Spielplatz am Schützenweg, als Teil der Ausstellung „Viele Vampire sind Vögel“, Stadtgalerie Bern, 2019.
DER FAHRENDE RAUM | Künstlerische Architektur „Der Fahrende Raum“ (Jochen Weber und Maximiliane Baumgartner)  mit Wandbild
Künstlerische Architektur „Der Fahrende Raum“ (Jochen Weber und Maximiliane Baumgartner) mit Wandbild "Schäfflers Grid", München, Freimann, 2019, Foto: Maximiliane Baumgartner

Urbane Formen der Öffentlichkeit im Zerrspiegel
der Geschichte performativ befragen – Mobile
Spielstrukturen als Ausgangsbasis dafür nutzen

Das, was wir Geschichte nennen, ist ein ständiger Aushandlungsprozess und von der Position der jeweiligen Sprecher*innen bestimmt. Der künstlerische Umgang mit Beispielen urbaner Geschichte und ihrer Konstruiertheit ist für mich dezidiert auch politisch-ästhetische Praxis. Ähnlich des Wagens bietet auch die Architektur des Fahrenden Raums als pädagogisch-künstlerisch organisierte Spielstruktur die Möglichkeit, dass Beteiligte ihre Produktionen situativ im Spielgeschehen veröffentlichen können: Der Aktionsraum „Café Größenwahn“ bildete ein künstlerisches Spielangebot auf Zeit und eine Intervention im öffentlich-städtischen Raum, welche letzten Herbst als Teil des Programms des Fahrenden Raums stattfand. Über eineinhalb Monate hinweg wurde der Fahrende Raum – seine Architektur sowie sein Aktionsradius auf der sogenannten Hummelwiese neben einer städtischen Spielplatzanlage in München-Freimann – intensiv bespielt.

Der Aktionsraum eignete sich dafür kritisch und punktuell Methoden vergangener aktionspädagogischer Formate an und versuchte eine performative Re-Kontextualisierung und Befragung der Schwabinger Bohème in Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Eine Anlehnung passierte hier in sehr freier Form an den Spielraum von 1987 „Treffpunkte Schwabing“ der Pädagogischen Aktion. Der Aktionsraum „Café Größenwahn“ kann dabei als Versuch gelesen werden, ungesicherte geschichtliche Zusammenhänge kritisch unter feministischen Perspektiven mit Kindern und Jugendlichen zu beleuchten – eine Sichtweise, die von Seiten der Pädagogischen Aktion nicht berücksichtigt wurde. Konzipiert von Ludwig Bader, Leo Heinik und mir band der Aktionsraum „Café Größenwahn“ eine Vielzahl von Künstler*innen und Kunstvermittler*innen (13) ins Spielgeschehen ein. Sie wurden gefragt, angelehnt an eine Künstler*innenpersönlichkeit oder auch Örtlichkeit der Schwabinger Bohème, eine Werkstatt oder Spielstation zu entwickeln. Hierbei lag der Fokus auch auf weiblichen Vertreterinnen, die unter feministischen Gesichtspunkten 
durch das Raster einer urbanen Kanon-Geschichte Münchens gefallen sind. Infolgedessen entstand beispielsweise das Fotoatelier Elvira, das einst von der Frauenrechtsaktivistin Anita Augspurg und ihrer Lebensgefährtin Sophia Goudstikker in der Elvirastraße in München betrieben wurde. Oder auch Lotte Pritzel und ihre Puppenwerkstatt zogen unter der Ägide des Künstlers Jonathan Penca (zurück) nach Schwabing-Freimann auf die Hummelwiese. Letztere war für ihre ätherisch-androgyn wirkenden Portraits ihrer Zeitgenoss*innen in Form von Puppen bekannt. Die Künstlerin Lisa Schairer betreute das neu ausgerufene Fotostudio Elvira, in dem die Kinder und Jugendlichen mit Hilfe einer Nebelmaschine und Kameras Geisterfotografien aufnahmen oder mit großer Lust auch den eigenen Tod inszenierten. Im Kurzschluss von Gegenwart und (imaginierter) Geschichte trafen Kinder, Jugendliche und eingeladene Künstler*innen so auf bohèmistisch-urbane Lebensentwürfe und künstlerische Arbeitspraxen der Jahrhundertwende.

DER FAHRENDE RAUM | Freie Skizze zur baulichen Anordnung der Roten Stadt als Spielstruktur und erweiterbarem Aktionsspielplatz (entworfen von PA-Team München - Wolfgang Zacharias und Hans Mayrhofer), Maximiliane Baumgartner 2020 -
Freie Skizze zur baulichen Anordnung der Roten Stadt als Spielstruktur und erweiterbarem Aktionsspielplatz (entworfen von PA-Team München - Wolfgang Zacharias und Hans Mayrhofer), Maximiliane Baumgartner 2020

Der Materialbegriff innerhalb pädagogisch organisierter Spielstrukturen ist von fluiden Prozessen gekennzeichnet. Innerhalb des Aktionsraums „Café Größenwahn“ bildeten die Werkstätten und Inszenierungen genauso im Spiel zu verhandelndes Material wie die performativen Re-Inszenierungen biographischer sowie imaginierter Fragmente. Der imaginierte historische Raum eines urbanen Künstler*innenzusammenhangs um die Schwabinger Bohème schloss sich darin mit dem Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum der beteiligten Kinder zusammen. So gab es einen fließenden Übergang von Produktion und Präsentation, innerhalb dessen auch in einem spielerischen Prozess die Ausgestaltung des Aktionsraums stattfand: Rund um die Architektur des Fahrenden Raums entstanden in Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen Hütten und Werkstätten, in denen Künstler*innen und Dichter*innen von heute und aus der Vergangenheit zusammenkommen konnten, um sich auszutauschen, gemeinsam zu arbeiten und voneinander zu lernen. Der Fahrende Raum war darin vieles: in seiner künstlerischen Architektur, Spielobjekt sowie performativ zu aktivierende Kulisse, ein Teil des Café Größenwahns sowie seine Gastgeberin – ein fluider Prozess.

Schlussbetrachtung:

Die Materialität von Spiel- und Lernsettings machtkritisch auf ihre politisch-ästhetische Dimension hin zu befragen, bereitet insbesondere der Kunst neue Handlungsfelder. Diese Befragung bezieht sich zum einen auf historische Beispiele sowie auch auf die Imagination neuer emanzipatorisch-wirkender Ansätze innerhalb des städtischen Raums. So imaginiere ich … : Vielleicht sollte jedes Stadtviertel einen Gerümpel-Spielplatz haben, in dem der ausrangierte Schrott der jeweiligen Dekaden von den Kindern und Jugendlichen in ihrem Spiel befragt und in einer Art kathartischem Prozess „verspielt“ werden kann. Wie könnte eine solche Stadt aussehen? Wie wäre es, wenn die Kinder selbst über diese Plätze mitbestimmen könnten und welcher Schrott der Erwachsenen angekarrt wird? Diese Spielplätze könnten hier als eine Art alltagskulturelles städtisches Gedächtnis wirken und neue Betrachtungsweisen zu Material und (Um)welt generationenübergreifend in Gang setzen.

 

DER FAHRENDE RAUM | Spielstation „Modell-Markt
Spielstation „Modell-Markt" begleitet und mitgestaltet von Leo Heinik, Aktionsraum „Café Größenwahn –  Eine Künstler*innen-Kolonie“, Der Fahrende Raum, München 2019, Foto: Maximiliane Baumgartner; Innensetting (Künstlerische Architektur), Spielstation Cafe Größenwahn, Aktionsraum „Café Größenwahn –  Eine Künstler*innen-Kolonie“, Der Fahrende Raum, München 2019. Foto: Maximiliane Baumgartner

1 In Dänemark eröffneten bereits 1943 erste „Skrammelegeplads“, 
sogenannte Gerümpelspielplätze.
2 Der Beutelsbacher Konsens fasst die drei bis heute grundlegenden didaktischen Präambeln politischer Bildung zusammen. „Überwältigungsverbot (keine Indoktrination); Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik im Unterricht; Befähigung der Schüler, 
in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren“,
siehe auch: https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens
3 Siehe dazu Nana Lüth: Art Education Research No. 14/2018. 
Demokratiebildung. Kunst/Vermittlung gegen Rassismus.
4 Als Teil der Redenreihe „Making sense of the digital society“ des 
Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), fand dies 2018 
u.a. mit Andreas Reckwitz als Gastredner statt.
5 Siehe: https://www.bpb.de/mediathek/290024/andreas-reckwitz-
digitalisierung-und-gesellschaft-der-singularitaeten
6 Siehe dazu Nana Lüth: Art Education Research No. 14/2018. 
Demokratiebildung. Kunst/Vermittlung gegen Rassismus.
7 Siehe: Nora Sternfeld: Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault, S.19.
8 Der öffentlich-städtische Raum wird hier vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedrohung durch Kommodifizierung, Kommerzialisierung und Privatisierung betrachtet.
9 Im Sinne Donna Haraways.
10 „Die Gewährleistung der Inneren Sicherheit wird meist als eine Kernaufgabe des Staates gesehen. Über diese sichert er sich seine Legitimation bei seinen BürgerInnen. Kritisch angemerkt werden muss, dass unter Sicherheit oft nur die Sicherheit für Besitzende verstanden wird. Das Recht auf Unversehrtheit oder Bewegungsfreiheit von Wohnungslosen wird in der Praxis meist nicht so hoch angesetzt wie das Recht auf Eigentum und Konsumfreiheit. So beispielsweise sollen in der Hamburger Innenstadt Obdachlose nur bis Geschäftsbeginn nächtigen dürfen, da deren Anwesenheit den PassantInnen nicht zuzumuten sei.“ Siehe: Lucius Teidelbaum: Innere Sicherheit. Law & Order als Element rechtspopulistischer Politik bei der AfD. In: e-paper Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, im April 2017. https://www.weiterdenken.de/sites/default/files/uploads/2017/04/lucius_teidelbaum_innere_sicherheit.pdf
11 Vgl. Adorno, Theodor (1949) Studien zum Autoritären Charakter.
12 Siehe: Lucius Teidelbaum: Innere Sicherheit. Law & Order als Element rechtspopulistischer Politik bei der AfD. In: e-paper Weiterdenken – 
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, im April 2017, S.26. https://www.
weiterdenken.de/sites/default/files/uploads/2017/04/lucius_teidelbaum_innere_sicherheit.pdf
13 Eingeladen und beteiligt waren Panagiotis Gritzos, Laura Ziegler, Lisa Schairer, Stephan Janitzky, Gözde Ilkin, Christian Honold, Gerd Grüneisl, Elisabeth Hüttner, Brigitte Fingerle-Trischler (Stadtteil-Archiv Freimann), Jonathan Penca, Vera Brosch, Clara Laila Abid Alsstar, Linda Achberger.